Digitaler Zwilling für bessere Prognosen |
Um einen Menschen komplett virtuell nachzubauen, müssen riesige Datenmengen verarbeitet werden. Der digitale Zwilling ist daher momentan noch auf einzelne Organe oder Stoffwechselprozesse beschränkt. / © Getty Images/Yuichiro Chino
Bei einem digitalen Zwilling handelt es sich um ein virtuelles Modell, in das möglichst viele individuelle Daten einer Person einfließen – zu Geweben, Organen und Stoffwechselprozessen. Es ist dynamisch und bildet so physiologische Prozesse und ihre Veränderungen ab. Sein Potenzial für eine individualisierte Medizin sei enorm, erklärt Professor Dr. Andreas Schuppert, Leiter des Instituts für Computational Biomedicine der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen, im Gespräch mit der PZ.
So ließe sich anhand von Simulationen am digitalen Abbild vorab testen, ob eine Therapie anschlagen wird oder nicht. Man könnte erkennen, welche Gesundheitsrisiken für eine Person bestehen, inwieweit sich präventive Maßnahmen auswirken werden oder welche Wechsel- oder Nebenwirkungen bei Arzneimitteleinnahme wahrscheinlich sind. Auch für die Planung und Durchführung von Operationen wäre ein digitaler Zwilling ein Gewinn.
In der Industrie nutzt man das Konzept des digitalen Doppelgängers längst, sei es um neue oder veränderte Produkte, Anlagen oder Prozesse frühzeitig zu testen, das Monitoring zu verbessern oder Maschinen vorausschauend zu warten. Ein weiteres Beispiel ist Google Maps, ein ständig mit Daten gefüttertes digitales Abbild der aktuellen Verkehrslage.
Um die Beziehung zwischen Zellen und Organen besser zu verstehen, versucht man auch in der Systembiologie schon seit längerer Zeit, menschliche Modelle zu entwickeln. »Vor 20 oder 30 Jahren hat man in diesem Kontext versucht, einen generischen Patienten, ein generisches Herz oder eine generische Leber darzustellen«, so Schuppert. Das Problem: ein allgemeiner Mensch oder allgemeine Organe existieren nicht. »Wenn man von sehr vielen Patienten 1000 Parameter bestimmt und versucht, durch Mittelwertbildung einen Durchschnittsmenschen zu konstruieren, dann werden Sie feststellen, dass es den Durchschnittsmenschen nicht gibt.« Die Reise geht daher längst weg von einem One-Size-fits-all-Ansatz hin zum konkreten Menschen beziehungsweise konkreten Organen.
Um einen digitalen Zwilling zu entwickeln, sind riesige Datenmengen nötig, die in einen gemeinsamen Kosmos integriert werden müssen. Dabei geht es um individuelle biophysiologische Langzeitdaten in Kombination mit genetischen Daten, Ergebnissen aus Studien, Bevölkerungs- und Umweltdaten sowie dem, was zu speziellen Krankheitsbildern bekannt ist. Daraus, so die Vision, ließen sich am Ende mithilfe von Algorithmen individuelle Vorhersagen ableiten, Krankheitsverläufe überwachen und Behandlungspläne optimieren. Eine exakte 3D-Repräsentation würde zudem die Planung von chirurgischen Eingriffen verbessern.
»Diese Vision geht allerdings weit über das hinaus, was im Moment realisierbar ist«, so Schuppert. »Die konzeptuellen Entwicklungen von digitalen Zwillingen für die Medizin fokussieren sich heute deshalb sehr stark darauf, einzelne spezifische Erkrankungen zu adressieren, also nicht den Menschen in seiner Gesamtheit.« In einigen Teilbereichen ist man hier schon recht weit. Das gilt zum Beispiel für einzelne Organe wie die Leber, die Lunge oder das Herz beziehungsweise für spezielle Erkrankungen oder Stoffwechselprozesse.
Professor Dr. Thomas Pock von der TU Graz bei der Arbeit am Projekt CardioTwin. / © TU Graz/Lunghammer
Unter anderem in Graz forschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon länger am digitalen Zwillingsherz. Hatten sie zunächst die Aktivierungssequenz in gesunden Herzen rekonstruiert und simuliert, widmet sich das im vergangenen Jahr gestartete Projekt CardioTwin nun verschiedenen Krankheitsbildern, etwa Reizleitungsstörungen nach einem Herzinfarkt. Ein anderes Beispiel ist die Leber. »Seit Anfang der 2000er-Jahre wurde die Lebermodellierung in Deutschland intensiv gefördert. Gerade für die Pharmakologie ist sie ein extrem wichtiges Organ«, so Schuppert.
Ein Beispiel im klinischen Kontext, das in Neuseeland entwickelt und dort sowie in einigen asiatischen Ländern angewandt wird, ist die Glucoseregulierung in der Intensivmedizin. »Speziell entwickelte und individuell an den Patienten angepasste Modelle sorgen dafür, dass die Insulindosierung, die der Patient bekommt, eine Hyper- und Hypoglykämie vermeidet«, führt Schuppert aus. Es handele sich hier allerdings um einen sehr kleinen digitalen Zwilling, der nur aus wenigen Algorithmen bestehe.
Einen präventiven Ansatz verfolgen Forschende der Universität Linköping in Schweden. Dort arbeiten sie derzeit daran, ein allgemeines Basismodell zu erstellen, das 300 Patienten im Frühjahr ausprobieren sollen. Die Idee ist, dieses Basismodell mit individuellen Daten zu füttern und so ein digitales Ebenbild zu erhalten, das helfen kann, die persönliche Gesundheit im Auge zu behalten. Dieser Avatar könnte dann vorhersagen, wie der eigene Körper reagiert, wenn man zum Beispiel mehr Sport treibt oder die Ernährung umstellt. Er könnte auch Hinweise geben, wann es sinnvoll ist, mit bestimmten Medikamenten zu beginnen und vorhersagen, wie sie wirken.
»Wenn solche individuellen Avatare dabei helfen, die Motivation zu unterstützen, dann ist das natürlich eine prima Sache«, so Schuppert. Er vermutet jedoch, dass die Kernbotschaft meist eine bleibe, die ohnehin bekannt ist: Lebe gesünder. »Dafür braucht man aber genau genommen keinen digitalen Zwilling.«
Wie die Infrastruktur dafür aussehen könnte, einen digitalen menschlichen Zwilling auf EU-Ebene zu realisieren, haben in den vergangenen Jahren Spezialisten entwickelt, zu denen auch Schuppert gehört. Das Projekt EDITH steht für Ecosystem for Digital Twins in Healthcare. In dem Konzept sei gezeigt worden, wie sich viele Untereinheiten zu einem allgemeinen Modell zusammenführen ließen, inklusive regulatorischer Probleme und Datenschutzaspekte, erläutert der Wissenschaftler. »Dieses Projekt ist leider im vergangenen Jahr ausgelaufen. Um hier etwas zu erreichen, müsste man richtig viel Geld investieren, wie bei den EU-Flagship-Projekten, etwa dem Human Brain Projekt.«
Was bei all dem immer mit bedacht werden muss, ist der Datenschutz. Schuppert: »Hier geht es nicht nur um die Datensicherheit, sondern auch um die Frage: Wer hat Zugang zu den Daten und zu ihrer Auswertung?« Am Ende darf der Schaden nicht größer sein als der Nutzen. »Ich plädiere immer dafür, dass man sich zunächst auf Fragestellungen mit einem ganz konkreten Nutzen konzentriert. Denn wenn es darum geht: Risiko für die Patienten oder für die Daten, dann ist die Auswahl für die Betroffenen in aller Regel sehr klar.«