Diese Arzneistoffe wirken bei Frauen anders |
Carolin Lang |
28.09.2023 16:30 Uhr |
Frauen erleiden etwa doppelt so oft Arzneimittelnebenwirkungen wie Männer. / Foto: Adobe Stock/fizkes
»Menschen unterschiedlichen Geschlechts reagieren unterschiedlich auf therapeutische Maßnahmen und können unterschiedlich von Erkrankungen betroffen sein«, erklärte Dingermann am gestrigen Mittwoch auf der Pharma-World-Bühne bei der Expopharm. Dies habe etwa biologische Gründe wie unterschiedliche genetische Merkmale, Organgrößen und -Funktionen oder physiologische Prozesse. Während Frauen etwa häufiger von Osteoporose, Rheumatoider Arthritis und anderen Autoimmunerkrankungen betroffen seien, litten Männer etwa häufiger unter kardiovaskulären Erkrankungen oder Gicht.
Professor Dr. Theo Dingermann / Foto: PZ/Carolin Lang
In puncto Arzneistoffwirkung seien die geschlechtsspezifischen Unterschiede meist pharmakokinetischer Natur, könnten aber auch durch pharmakodynamische Divergenzen verursacht werden. »Dabei spielen triviale Aspekte zum Teil eine ausschlaggebende Rolle«, führte Dingermann aus. So seien Frauen zum Beispiel meist kleiner und leichter als Männer, sodass die gleiche Dosis bei ihnen zu höheren Wirkstoffkonzentrationen führe. Zudem sei der Körperfettanteil bei Frauen größer und der Körperwasseranteil geringer als bei Männern. Daraus ergäben sich Konsequenzen für die Konzentration, Verteilung und Wirkdauer von Arzneistoffen. Auch könne sich der Metabolismus von Arzneistoffen bei Mann und Frau unterscheiden.
Trotz dieser Unterschiede werde für Männer und Frauen in der Regel ein einheitlicher pharmakologischer Ansatz verfolgt, also einheitlich dosiert. »Es gibt natürlich Wirkstoffe, die nach Körpergewicht oder Oberfläche dosiert werden«, räumte Dingermann ein. Aber das seien in der Regel die »neuen« und weniger die »klassischen« Wirkstoffe. Daher erlitten Frauen etwa doppelt so oft Arzneimittelnebenwirkungen wie Männer.
Diese »unbefriedigende Situation« sei historisch zu begründen, wie Dingermann schilderte. Erst seit 2004 schreibt das Arzneimittelgesetz vor, Frauen in klinischen Studien gemäß ihrem Anteil an der Krankheit zu berücksichtigen. Somit sei die Gendermedizin noch eine sehr junge biomedizinische Wissenschaft.
Dennoch sei bereits von einigen Arzneistoffen bekannt, dass sie bei Männern und Frauen unterschiedliche Nebenwirkungen verursachen könnten oder unterschiedliche Dosierungen erforderten – »bislang ohne Konsequenzen für die Praxis«, wie Dingermann betonte.
Dazu gehörten beispielsweise ACE-Hemmer, die bei Frauen häufiger zu Reizhusten führten, oder Sertralin und Fluvoxamin, die bei Frauen eine stärkere Wirkung hätten. Bei Clopidogrel und Heparin etwa hätten Frauen ein höheres Blutungsrisiko und unter Ciprofloxacin, Citalopram und Haloperidol ein höheres Risiko für lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen.
Bei Paracetamol unterscheide sich die analgetische Wirksamkeit bei Männern und Frauen zwar kaum, jedoch liege die Paracetamol-Clearance-Rate bei Männern um 22 Prozent höher als bei Frauen, was mit einer intensiveren Glukuronidierung begründet werde. »Das kann toxikologische Effekte nach sich ziehen, denn Paracetamol hat ein Potenzial für Lebertoxizität.«
Als eindrückliches Arzneistoffbeispiel, bei dem die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA tatsächlich eine differenzierte Dosierung bei Mann und Frau empfehle, sei das Schlafmittel Zolpidem. Jahre nach der Zulassung sei durch Polizeistatistiken aufgefallen, dass Frauen unter Zolpidem vermehrte Autounfälle in den Morgenstunden verursacht hatten. Klinische Studien offenbarten dann, dass die Wirkung des Arzneistoffs bei Frauen länger anhält. Die FDA halbierte daraufhin die bislang empfohlene Dosis für Frauen bei schnell-freisetzenden und retardierten Zubereitungen.
Dass viele der Erkenntnisse sich noch nicht in entsprechenden Leitlinienempfehlungen der Fachgesellschaften widerfänden, liegt laut Dingermann unter anderem daran, dass die Leitliniensystematik »sehr rigide«. sei »In eine S2-Leitlinie kommt nur das, was durch randomisiert kontrollierte Studien belegt ist«, führte er aus.
Abschließend bedauerte er, dass viele Daten zwar in klinischen Studien mit Männern und Frauen erhoben sind, aber auf geschlechtsspezifische Auswertung warteten.