Die Zukunft ist jetzt |
Daniela Hüttemann |
03.12.2024 16:20 Uhr |
Fast jeder Mensch trägt eine Genvariante, die die Verträglichkeit bestimmter Medikamente beeinflusst. / © Getty Images/Ober Ramirez
»Was schätzen Sie, wie hoch ist die Chance, dass Sie eine genetische Variante tragen, die pharmakologisch relevant ist? 95 Prozent.« Damit überraschte Dr. Jesse J. Swen, Professor für Klinische Pharmazie und Pharmakogenetik an der Universitätsmedizin Leiden, Niederlande, die Teilnehmenden des Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Klinische Pharmazie, der am 23. und 24. November in Hamburg stattfand.
»Man denkt immer, so eine pharmakogenetische Variante wäre etwas Seltenes, dabei trifft es fast alle«, betonte der Keynote-Speaker die Relevanz seines Forschungs-Schwerpunkts. Die Berücksichtigung der individuellen genetischen Ausstattung der Patienten sei keine Zukunftsmusik mehr, sondern schon längst Realität.
Die Europäische Arzneimittelagentur empfiehlt beispielsweise bereits seit einigen Jahren vor der Behandlung mit bestimmten Wirkstoffen eine entsprechende genetische Testung, die teils sogar verpflichtend ist, zum Beispiel die Testung des Status von CYP2C19 bei Mavacamten oder auf CYP2C9 bei Siponimod.
So sieht der DNA-Medikationspass aus, den die Patienten des LUMC nach einer Genotypisierung erhalten. / © Universität Leiden
Swen will deutlich weitergehen. »Bislang haben wir die Pharmakogenetik vor allem genutzt, wenn etwas nicht funktioniert hat oder schiefgelaufen ist, zum Beispiel eine ansonsten unerklärliche Toxizität.« Der klinische Pharmazeut will am liebsten die DNA jedes Patienten, der eine Apotheke betritt, typisieren. Die Niederlande gelten hier als Vorreiter; die Typisierungen werden beispielsweise in Leiden von der Krankenhausapotheke durchgeführt.
3000 bis 4000 genetische Testungen führt das Labor unter Swens Leitung pro Jahr durch. Die Patienten erhalten dann einen »DNA-Medikationspass« – eine Karte mit QR-Code, über den Apotheker und Arzt eine Übersicht erhalten, welche Medikamente der Patient nicht verträgt und wo und wie die Dosis angepasst werden muss. In den Niederlanden legten die Patienten ihren DNA-Pass mittlerweile auch in den öffentlichen Apotheken vor.
Ein internationales Konsortium unter Swens Leitung hatte vor rund zwei Jahren nachgewiesen, dass es sinnvoll ist, bei allen Patienten, die ein durch Genetik beeinflusstes Medikament erhalten, 50 Varianten von zwölf Genen zu bestimmen.
Fast 7000 Patienten aus sieben europäischen Ländern (auch Deutschland) mit verschiedenen Krankheiten, unter anderem aus der Onkologie, Psychiatrie und Kardiologie, nahmen an der PREPARE-Studie teil. Auch 28 öffentliche Apotheken waren beteiligt. Die Patienten wurden angesprochen, wenn sie zum ersten Mal ein Medikament von der Liste der Niederländischen Pharmakogenetik-Arbeitsgruppe erhielten. In der Interventionsgruppe (n = 3342) wurden bei allen Patienten 50 Varianten von zwölf Genen getestet. Bei Patienten mit einer interventionsbedürftigen Variante (n= 1558) wurde die Verordnung dann angepasst. Am häufigsten betroffen waren Atorvastatin und Clopidogrel.
Verglichen mit einer Kontrollgruppe ohne Gentestung (n = 3602) traten 30 Prozent weniger Nebenwirkungen innerhalb der ersten zwölf Wochen der Behandlung auf, berichtete das Studienteam im Februar 2023 im Fachmagazin »The Lancet«. Die Ergebnisse seien auch von der internationalen Presse aufgenommen worden und haben es sogar zu einer Frage im beliebten deutschen Fernsehquiz »Wer weiß denn sowas?« geschafft, berichtete Swen.
Zur Freude von Professor Dr. Jesse Swen haben es seine Forschungsergebnisse bis in eine deutsche Quizshow geschafft. / © PZ/Daniela Hüttemann
Derzeit arbeite das Team noch an einer Kosteneffizienz-Analyse. Etwa 200 Euro koste der Test für die 12 Gene mit 50 Varianten. In den Niederlanden bezahlt ihn die Krankenkasse, wenn der Arzt ihn anordnet – leider aber noch nicht auf Anraten der Apotheker, bedauerte Swen, »obwohl diese meistens das Problem als Erste erkennen.«
Auch wenn es bereits evidenzbasierte Einsatzmöglichkeiten der Pharmakogenetik gibt, sei noch sehr viel zu tun. Die bislang getesteten Gene seien nur die Spitze des Eisbergs. Seltenere Varianten müssten noch besser erfasst und mehr Ethnien abgebildet werden, zudem müssten die verschiedenen pharmakogenetischen Tests harmonisiert werden, schränkte Swen ein. Nicht zuletzt müssen Ärzte und Apotheker entsprechend fortgebildet werden, um mit den Daten auch etwas anfangen zu können.