»Die Selbstbestimmung der Frauen wird nicht beachtet« |
Daniela Hüttemann |
26.01.2024 15:00 Uhr |
Viele junge Frauen zwischen 16 und 20 Jahren gaben in einer Umfrage an, dass sie keine oralen Kontrazeptiva nutzen, weil sie einen Arzt sehen müssten und die gynäkologische Untersuchung scheuen. / Foto: Adobe Stock/Cookie Studio
PZ: Professor May, Sie haben am Dienstag bei der Sitzung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht als externer Experte Argumente vorgetragen, warum Frauen die Minipille mit Desogestrel 75 µg ohne Rezept in der Apotheke kaufen können sollten. Was spricht denn aus Ihrer Sicht dafür?
May: Neben der guten Wirksamkeit und Verträglichkeit, was ja pharmazeutisch-medizinische Gründe sind, müssen wir die Hürden senken, damit alle Frauen einen möglichst niedrigschwelligen Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln haben.
Foto: May und Bauer/headshots.de
Professor Dr. Uwe May ist Volkswirt und Gesundheitsökonom. Als Studiendekan an der Hochschule Fresenius ist er für den Masterstudiengang International Pharmacoeconomics and Health Economics verantwortlich. Zudem ist er Mitbegründer und Inhaber der Unternehmensberatung May und Bauer, das auch die Pilotprojekte zur Grippeimpfung in deutschen Apotheken wissenschaftlich begleitet hat.
PZ: Sind die Hürden denn so hoch? Die Frauenärzte sagen, die Mädchen und Frauen in Deutschland haben einen sehr guten Zugang zu Verhütungsmitteln.
May: Wenn man es daran festmacht, dass es in den meisten Regionen ausreichend Frauenärzte gibt und diese kostenlos konsultiert werden können, ist das richtig. Im Alltag sind es aber weitere Faktoren, die Hürden aufbauen und das Verhalten beeinflussen: Es ist nicht nur der zeitliche Aufwand, einen Arzttermin auszumachen und sich das Rezept zu besorgen, sondern auch manchmal die Scham oder Angst vor einer gynäkologischen Untersuchung. Dabei ist diese Untersuchung gemäß verschiedener internationaler Fachgesellschaften und führender Frauenärztinnen in Deutschland vor und unter der Einnahme einer Minipille sogar gar nicht angezeigt. Nicht zuletzt wird einfach die Selbstbestimmung der Frauen hier missachtet, ohne dass dies in der Sache begründbar ist!
PZ: Was wollen denn die Frauen selbst?
May: Viele denken offenbar, das muss so sein, weil sie es nicht anders kennen. Doch wir haben jeweils 1000 Frauen in Deutschland, Italien und Spanien zu ihrem Verhütungsverhalten und Wünschen befragt*, alles Frauen zwischen 16 und 45, die Sex haben, aber nicht schwanger werden wollen. Dabei kam heraus, dass 5 bis 6 Prozent in jedem Land gar nicht verhüten und 8 bis 20 Prozent weniger sichere Methoden wie Kondome benutzen. Ein Drittel gab an, in den letzten zwei Jahren Probleme gehabt zu haben, an orale Kontrazeptiva zu kommen. Neben den Kosten wurden die Pflicht, einen Arzt zu konsultieren und lange Wartezeiten für einen Termin als Gründe dafür genannt. Und gerade bei den jungen Frauen zwischen 16 und 20 Jahren gaben viele an, dass sie keine oralen Kontrazeptiva nutzen, weil sie einen Arzt sehen müssten und die gynäkologische Untersuchung scheuen.
PZ: Würden sich die Frauen und Mädchen denn trauen, die Minipille selbst in der Apotheke zu besorgen?
May: Ja, die Hälfte der Befragten in Deutschland – in Italien und Spanien sogar etwas mehr – würden die Minipille gerne ohne Rezept beziehen. Mehr als ein Drittel würde dann sogar von der jetzigen Verhütungsmethode auf die Minipille umswitchen. Die Frauen fühlen sich in der Apotheke gut aufgehoben. Und auch fast alle der von uns jeweils hundert befragten Apothekerinnen und Apotheker meinen, dass Frauen einen einfachen Zugang zu hormonellen Kontrazeptiva haben sollten. Der Großteil würde einen OTC-Switch begrüßen. Schließlich beraten die Apotheken auch schon seit einigen Jahren verantwortungsbewusst zur Pille danach.
PZ: Wie beurteilen Sie das einstimmige Votum des Sachverständigenausschusses gegen den Antrag auf Entlassung aus der Rezeptpflicht für die Minipille mit Desogestrel?
May: Das Gremium ist extrem risikoorientiert, was die Arzneimittelsicherheit angeht, beachtet aber weniger die Risiken, die zum Beispiel entstehen, wenn auf eine Behandlung oder Anwendung aufgrund zu hoher Hemmnisse verzichtet wird. Im Fall der Minipille wären das ungewollte Schwangerschaften und möglicherweise Abtreibungen. Als es zuletzt um Sildenafil und Tadalafil gegen erektile Dysfunktion ging, wurde nicht berücksichtigt, dass viele Männer sich die Tabletten dann, wie es ja derzeit auch der Fall ist, eben über den Schwarzmarkt besorgen und eventuell gefälschte Produkte bekommen. Solche gesamtgesellschaftlichen Aspekte, die über das Pharmakologische hinaus gehen, sind für die Menschen von großer Bedeutung und sollten daher stärker in die Abwägung von Risiken und Nutzen eines Switches einbezogen werden.
Ein Problem bei der Umsetzung von Switches, ist auch das Verfahren an sich. Es sollte grundlegend hinterfragt werden, welche Kriterien wir in Deutschland bei der Entscheidung darüber, ob ein Wirkstoff oder auch ein Produkt rezeptfrei erhältlich sein kann, anlegen sollten. Im Ergebnis betrifft die Entscheidung über die Rezeptpflicht oft sehr viele Menschen in verschiedensten Lebensbereichen. Das reicht von versorgungspolitischen Aspekten, Fragen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bis hin zu sozio-ökonomischen Aspekten. Zudem könnte man über eine erweiterte Zusammensetzung des Ausschusses nachdenken. Darüber hinaus ist wichtig, dass wir das Verfahren dahingehend ändern, dass auch nur konkrete Präparate des Antragstellers rezeptfrei gestellt werden können. Auf diese Weise können bestimmte Bedingungen an den Switch geknüpft werde, wie eine weitergehende Beratung in der Apotheke oder auch ein Verbot des Bezugs über den Versandhandel.
PZ: Wie würde eine optimale Besetzung des Sachverständigenrats für Verschreibungspflicht aus Ihrer Sicht denn aussehen?
May: Natürlich ist die pharmakologische und medizinische Expertise wichtig und steht an erster Stelle. Dabei wäre idealerweise auch die Sichtweise von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten der jeweiligen Fachrichtung im Gremium als stimmberechtigtes Mitglied einzubeziehen. Im aktuellen Fall also einer Gynäkologin oder eines Gynäkologen. Auch die juristische, ethische, versorgungspolitische und gesundheitsökonomische Perspektive sollte hinzukommen.
Wichtig ist es zudem, verhaltensbezogene Aspekte in den Vergleich der Szenarien mit und ohne Rezeptpflicht eines konkreten Wirkstoffs einzubeziehen: Was macht der oder die Betroffene unter Alltagsbedingungen tatsächlich, wenn etwa eine rezeptfrei erhältliche Medikation nicht zur Verfügung steht? Entweder unterbleibt eine Behandlung oder der Patient nimmt vielleicht in Eigenregie ein inadäquates Präparat ein. Das konnten wir bei Migräne-Patienten beobachten, bevor die ersten Triptane rezeptfrei zur Verfügung standen. Auch hieraus können sich negative Folgen für die Patientensicherheit und Lebensqualität ergeben. Ich wünsche mir einfach, dass der Ausschuss bei Switch-Entscheidungen in Zukunft die gesamtgesellschaftliche Perspektive stärker beachtet. Es ist frustrierend, dass es gar keine Rolle spielt, was die Menschen wollen, brauchen und wie sie sich tatsächlich unter Alltagsbedingungen verhalten.
Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht wird vom Bundesministerium für Gesundheit einberufen und ist am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt. Das unabhängige Expertengremium besteht aus zehn stimmberechtigten und acht nicht stimmberechtigten Mitgliedern, die jeweils einen Stellvertreter haben.
Der SVA kommt in der Regel zweimal im Jahr zusammen, um über Anträge zur Entlassung aus der oder auch Unterstellung unter die Verschreibungspflicht bestimmter Arzneiformen, -stärken oder Packungsgrößen zu diskutieren und abzustimmen. Das Votum ist eine Empfehlung und nicht bindend für den Gesetzgeber. In der Regel folgt das BMG aber den Empfehlungen. Einen Antrag können sowohl Einzelpersonen, Firmen oder auch Organisationen stellen. Der Antragsteller darf bei der entsprechenden Sitzung seinen Antrag begründen, ist aber während der Beratung und Abstimmung abwesend.
Ob ein Arzneimittel geswitcht werden kann, dafür gibt es klare Kriterien, die die Europäische Kommission vorgibt. Dabei geht es in erster Linie um Gefahrenabwehr und die Patientensicherheit.
Die genaue Zusammensetzung des Ausschusses ist hier zu finden. Acht der stimmberechtigten Mitglieder sind Hochschulprofessoren und -professorinnen aus Medizin und Pharmazie. Hinzu kommt jeweils ein Vertreter der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und der deutschen Apotheker.
Professor Dr. Uwe May und seine Geschäftspartnerin Cosima Bauer sind Mitautoren der zitierten Studie zur Sichtweise von Frauen und Apothekern auf rezeptfreie Gestagen-haltige Pillen, die von HRA Pharma designt und finanziert wurde. Das Pharmaunternehmen, das zum Perrigo-Konzern gehört, hatte schon die OTC-Switches von Minipillen in Großbritannien und den USA beantragt und die entsprechenden Verfahren bei den Zulassungsbehörden MHRA beziehungsweise FDA begleitet.
* Emilio Arisi, Cosima Bauer, Manuela Farris, Chiara Giulini-Limbach, Anna Glasier, Inaki Lete, Uwe May, Noushin Mirjalili, Rossella E. Nappi, Rafael Sanchez- Borrego & Isabel Serrano (2022) The views of women and pharmacists on the desirability of a progestogen-only pill over the counter. Results of a survey in Germany, Italy and Spain, The European Journal of Contraception & Reproductive Health Care, 27:6, 494-503