Die Industrie muss liefern, wir müssen zahlen |
Daniela Hüttemann |
18.09.2023 16:30 Uhr |
Wenn einfach keine Ware da ist, helfen auch neue Regelungen zur Bevorratung nicht. / Foto: Getty Images/GeorgeRudy
Seit rund sechs Wochen ist das Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz — ALBVVG) in Kraft. Hat es spürbare Verbesserungen für die Krankenhausapotheken und öffentlichen Apotheken gebracht? Diese Frage stellte Kerstin Tschuck, Geschäftsführerin der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG), bei der Premiere eines neuen Online-Austauschformats, dem DPhG Pharma-Lunch-Talk, am heutigen Montagmittag.
Mehr als 80 Apothekerinnen und Apotheker aus Offizin und Krankenhaus nutzten ihre Mittagspause, um sich nach zwei kurzen Impuls-Referaten über die aktuelle Situation auszutauschen. Monika Andraschko, Chefapothekerin im Klinikum der Universität München sowie Erste Vorsitzende des ADKA-Landesverbands Bayern, erinnerte daran, dass die ADKA schon vor rund zehn Jahren einen ganzen Jahreskongress unter das Thema Lieferengpässe gestellt hatte.
»Wir kämpfen jetzt schon lange mit Lieferengpässen auf allen Ebenen, öffentliche und Krankenhausapotheken mittlerweile vereint im Leid«, so die Fachapothekerin für klinische Pharmazie. Waren es anfangs bestimmte Krebsmedikament und i.V.-Antibiotika, ist heute eine breite Palette von Engpässen betroffen, darunter auch die Antibiotika- und Fiebersäfte für Kinder. Der Mangel in den Apotheken vor Ort hat das Thema mehr in die Öffentlichkeit gebracht, die Politik sehe das Problem aber immer noch nicht in seiner Massivität, kritisierte Andraschko.
Die Klinikapotheken sollen nun laut neuem Gesetz Medikamente für die Intensivstation für sechs Wochen bevorraten. Aber wie denn, wenn nichts lieferbar ist, fragt sich Andraschko. Derzeit laufe in Bayern eine Abfrage, ob die Krankenhausapotheken überhaupt genug räumliche Kapazitäten dafür haben, denn wir sprechen hier auch von Paletten mit Infusionslösungen. Einige müssten externe Räume anmieten, was mit der üblichen Bürokratie mit den Aufsichtsbehörden verbunden ist – und natürlich auch mit Kosten.
Auch viele öffentliche Apotheken versuchen vorzusorgen, so gut es geht. In der Realität telefonieren sie mehrmals täglich mehrere Großhändler ab, um die immer länger werdenden Defektlisten abzuarbeiten. Zugleich versuchen sie, telefonisch bei den Ärzten durchzukommen, wenn kein einfacher Austausch möglich ist, berichtete Dr. Ulrich Lücht, Filialleiter der Johanni-Apotheke in Billerbeck im Münsterland. »Es wird immer schlimmer«, konstatierte der Apotheker. Das ALBVVG habe noch nichts an der Situation verbessert, schließlich werde nicht mehr produziert.
Denn genau das ist der Knackpunkt, fügte Andraschko hinzu. Mit Rezepturen und Defekturen, Einzelimporten oder auch einem Aushelfen zwischen verschiedenen Apotheken oder gar Krankenhaus und öffentlicher Apotheke im patientenbegründeten Einzelfall ließen sich die Versorgungslücken allenfalls mit einem enormen Aufwand abmildern, aber nicht komplett abfedern. Ozempic® beispielsweise lässt sich nicht einfach selbst herstellen und ist europaweit knapp.
»Selbstverständlich versuchen wir, in jedem Einzelfall zu helfen«, versicherte die Apothekerin. Dies funktioniere jedoch einfach nicht, wenn überall in Deutschland zu wenig Ware vorhanden sei. »Die Industrie ist gefordert, die nötigen Mengen bereitzustellen, und im Gegenzug sind wir gefordert, das auch angemessen zu bezahlen«, brachte es Andraschko auf den Punkt und meinte hier mit »wir« die Krankenkassen beziehungsweise die Gesellschaft.
»Man braucht uns Apotheken nicht vorzuschreiben, dass wir uns mehr bevorraten sollen, schließlich wollen wir natürlich unsere Patienten versorgen.« Die ganzen neuen Regelungen nützten nichts, wenn keine Arzneimittel geliefert werden. »Wir sind schon keine Kunden mehr, sondern Bittsteller bei der Industrie«, schilderte die Chefapothekerin aus München.
Filialleiter Lücht ärgerte sich auch über die Retaxierungen der Krankenkassen, wenn die Apotheken Lösungen für die Patienten finden, insbesondere, wenn sie Rezepturen herstellen – was zudem viele Apotheken aufgrund des Zeit- und Personalmangels gar nicht mehr stemmen könnten.
»Wir brauchen unbedingt ein umfassendes Retax-Verbot«, so der Apotheker – und mehr Austauschfreiheiten. Zudem kritisierten Lücht und Andraschenko das Rabattvertragssystem. »Das kostet uns viel Zeit, die uns für die Beratung fehlt«, so der Filialleiter. »Es kann nicht sein, dass die Krankenkassen erst Verträge mit Firmen schließen, die nicht genug liefern können, und dann auch noch die Apotheken retaxieren«, schloss sich Andraschko an. Vielmehr brauche es einen fairen Preisrahmen, innerhalb dessen die Apotheken nach Alternativen suchen können.
Viele Apotheken seien dazu übergegangen, den Notdienst habenden Ärzten tagesaktuelle Listen zur Verfügung zu stellen, was aktuell vorrätig oder lieferbar ist – manche tun dies auch schon im regulären Tagesgeschäft. Mit manchen Arztpraxen, gerade auf dem Land, klappten die Absprachen so gut. Generell wünscht sich der Apotheker eigene »Notrufnummern«, also eine direkte Leitung zur Arztpraxis für Apotheken, um dringende Fälle schnell abklären zu können und nicht in der Warteschleife zu landen.
Die Statements der Webinar-Teilnehmenden deckten sich zu hundert Prozent mit den Erfahrungen und Einschätzungen der beiden Impulsgeber. In Bezug auf Antibiotika für Kinder geht Lücht davon aus, dass dieser Winter »eine absolute Katastrophe« wird, ALBVVG hin oder her.