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Grundlagenforschung

Diazepam-Dauergebrauch greift Synapsen an

Die langfristige Einnahme von Diazepam kann zu kognitiven Beeinträchtigungen führen. Forscher konnten nun im Tiermodell erstmals nachweisen, dass das Benzodiazepin zum Verlust von Nervenverbindungen im Gehirn führt.
Laura Rudolph
14.03.2022  09:00 Uhr

Diazepam gehört zu den am häufigsten verordneten Benzodiazepinen. Die sedierende, angst- oder krampflösende Wirkung wird durch Bindung an den γ-Aminobuttersäure-Rezeptor Typ A (GABAA-Rezeptor) vermittelt. Ein Dauergebrauch kann zu kognitiven Beeinträchtigungen führen. Nun hat eine Forschergruppe um Yuan Shi des Zentrums für Neuropathologie und Prionforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Tierversuch erstmals die zellulären Mechanismen hinter dieser Nebenwirkung entschlüsselt: Über eine Bindung an das mitochondriale 18 kDa-Translokatorprotein (TSPO) in Mikroglia verändert Diazepam die Morphologie dieses Zelltyps und induziert eine erhöhte Phagozytose dendritischer Dornen. Diese kleinen membranösen Ausstülpungen neuronaler Dendriten sind an der Plastizität und Bildung erregender Synapsen beteiligt. Durch ihren Abbau entstehen kognitive Defizite. Der GABAA-Rezeptor bleibt an diesem Mechanismus jedoch unbeteiligt. Die Ergebnisse der Studie sind kürzlich im Fachjournal »Nature Neuroscience« (DOI: 10.1038/s41593-022-01013-9) erschienen.

Für ihre Untersuchungen verabreichten die Forschenden genetisch veränderten Mäusen (Thy1-eGFP), die in bestimmten Neuronen ein grünes Fluoreszenzprotein exprimierten, eine Woche lang täglich eine sedative Dosis Diazepam (5 mg pro kg Körpergewicht). Die Kontrollgruppe erhielt Placebo. 78 Tage vor der Gabe bis 78 Tage danach beobachteten die Forscher mittels Fluoreszenzmessung die Plastizität der dendritischen Dornen. Die Dornendichte der Interventionsgruppe verringerte sich signifikant im Vergleich zur Placebogruppe, was sich in einer reduzierten Bewegungsaktivität der Mäuse direkt nach der Diazepam-Gabe äußerte.

Die Dornendichtebaute sich nach der Gabe allmählich wieder auf; nach 56 Tagen erreichte sie das Ausgangslevel. Jedoch konnte bei Thy1-eGFP-Mäusen, die über vier Wochen täglich Diazepam (5 mg pro kg Körpergewicht) erhielten, der Verlust an dendritischen Dornen in den 78 Tagen des Nachbeobachtungszeitraums noch nicht wieder ausgeglichen werden. Das deute möglicherweise auf eine irreversible Schädigung der Plastizität der dendritischen Dornen hin, so die Autoren.

Um zu untersuchen, ob die gestörte Plastizität der dendritischen Dornen mit der gestörten Kognition korreliert, wurde mit den Mäusen ein Test zur Erkennung neuer Objekte (NORT) und ein Spontanveränderungstest (SAT) in einem Labyrinth durchgeführt. In beiden Tests schnitt die Interventionsgruppe deutlich schlechter ab, was auf eine Korrelation hindeutet.

Niedrigere Dosis führt zu weniger Einschränkungen

Neben der Einnahmedauer scheint auch die Dosis eine Rolle zu spielen. Offenbar verursachen niedrigere Diazepam-Dosen weniger kognitive Defizite: In einem ähnlichen, placebokontrollierten Experiment, in dem Thy1-eGFP-Mäuse acht Wochen lang eine anxiolytische Dosis (1 mg pro kg Körpergewicht) Diazepam erhielten, zeigte sich ein Dornendichte-Verlust, der innerhalb von drei Wochen nach Absetzen ausgeglichen werden konnte. Während die Mäuse im NORT-Test deutlich schlechter abschnitten als die Placebogruppe, zeigte die Interventionsgruppe beim SAT keine signifikanten Beeinträchtigungen.

Diazepam-Bindung an TSPO führt zur Phagozytose von Synapsen

Doch wodurch wird der Diazepam-bedingte Dichteverlust der dendritischen Dornen verursacht? Die Forscher vermuten die Bindung an TSPO als Auslöser: Die Verabreichung eines TSPO-Liganden (XBD173) ohne Affinität zu GABAA-Rezeptoren führte zu den zuvor bei Diazepam-Gabe beobachteten plastischen Veränderungen der Synapsen von ähnlich langer Dauer. Dagegen zeigten sich bei TSPO-Knockout-Mäusen, welche das Protein nicht mehr exprimieren können, nach Diazepam-Gabe unabhängig von Dauer und Dosierung keine Beeinträchtigung der Plastizität dendritischer Dornen.

Vermittler dieses zellulären Effekts von TSPO sind vermutlich Mikroglia, bestimmte Immuneffektorzellen des zentralen Nervensystems. Mäuse, die zwei Wochen lang mit Diazepam (5 mg pro kg Körpergewicht) behandelt wurden, zeigten ein erhöhtes TPSO-Signal bei der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) auf. Nach Anfärben von TPSO zeigten sich Mikroglia als Hauptquelle.

Hinter dem Verlust der dendritischen Dornen vermuten die Forscher eine immunologische Ursache: Die Bindung von Diazepam an mikrogliales TSPO führt neben einer erhöhten Expression des Komplementsystem-Proteins C1q in den Mikroglia auch zu einer vermehrten C1q-Ablagerung an den dendritischen Stacheln. In der Folge werden diese vermehrt phagozytiert und ihre Dichte nimmt ab. Dies führt letztendlich zu den kognitiven Beeinträchtigungen bei einer langfristigen Benzodiazepin-Einnahme. Allerdings stehen noch weitere Studien aus, um diese komplexen Zusammenhänge weiter zu erforschen. Weitere Erkenntnisse könnten aus Sicht der Forscher dazu beitragen, nebenwirkungsärmere Sedativa ohne TPSO-Affinität zu entwickeln.

 

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