Der weibliche Körper radikal fragmentiert |
Angela Kalisch |
03.06.2025 09:00 Uhr |
»Ästhetik des Hässlichen«: Das Städel am Museumsufer in Frankfurt am Main zeigt eine Ausstellung der Arbeiten von Annegret Soltau. / © PZ/Kalisch
Feminismus, Körperpolitik und Identität sind die zentralen Themen im künstlerischen Schaffen von Annegret Soltau. Die in Darmstadt lebende Künstlerin ist mit ihren Arbeiten in internationalen Museen in New York oder Paris vertreten. In Deutschland dagegen ist Soltau eher ein Geheimtipp geblieben, immer wieder sogar auch auf Unverständnis gestoßen bis hin zur Verhüllung von Kunstwerken.
»Wir trauen uns, Annegret Soltau zu zeigen, und zwar in der ganzen Radikalität und Entschiedenheit ihres Werkes«, sagt Philipp Demandt, Direktor des Städel Museums, bei der Ausstellungseröffnung im Mai und erklärt so den Titel der Ausstellung: »Unzensiert«. Mit mehr als 80 Arbeiten zeigt die Ausstellung einen Überblick von den Anfängen in den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart, darunter Zeichnungen und Radierungen, Videos und Installationen sowie vor allem Fotoübernähungen und -vernähungen.
Von Beginn an beschäftigt die Künstlerin sich mit dem Element der Linie, als alles umspinnenden Faden, als geometrische Form und Netz. Frühe Zeichnungen und Druckgrafiken zeigen Frauen, die von feinen Linien umschlossen sind, wie in einen Kokon gehüllt, beschützend und beengend zugleich. Diese Ambivalenz hinterfragt Rollenbilder von Frauen und gesellschaftliche Normen, macht innere Gefühlswelten und äußere Erwartungen sichtbar.
Vor allem der eigene Körper wird immer wieder zum Austragungsort für Verhandlungen gesellschaftlicher Strukturen. Die Zeichnung weicht mit der Zeit dem echten Material. Mit grobem Faden umwickelte Gesichter, auf denen im wahrsten Sinne des Wortes »einschneidende« Spuren hinterlassen sind, bis hin zur Verbindung von mehreren Personen durch ein sensitives Netz: Wenn sich ein Mensch bewegt, spüren es alle.
Großen Raum nimmt das Thema Schwangerschaft und Mutterschaft ein. Nicht als überhöhte, idealisierte Darstellung, sondern als existenzielle Erfahrung, die bis zur Auslöschung der eigenen Person führt. Der weibliche Körper, dekonstruiert und fragmentiert und in grotesker, verstörender Form wieder zusammengefügt, bot immer wieder Anlass, Soltaus Werke zu zensieren. So schloss beispielsweise der Verleger Siegfried Unseld 1995 ihren Beitrag aus einer Veröffentlichung des Suhrkamp-Verlags zum Gestaltwandel der Frau im Alter aus, mit der Begründung, Soltau würde mit ihren Bildern eine Ästhetik des Hässlichen verfolgen.
Die radikale Darstellung des weiblichen Körpers als verletzlich und ausgeliefert und gleichzeitig selbstbestimmt war ihrer Zeit häufig voraus und brach mit den vertrauten Sehgewohnheiten. Soltau konfrontierte ein Publikum, das auf diese unbequeme Sichtbarmachung von Strukturen nicht vorbereitet war, erläutert Svenja Grosser, Kuratorin der Ausstellung.
Viele Arbeiten Soltaus haben einen autobiografischen Hintergrund. Dazu gehört nicht nur die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutterrolle, sondern auch das Motiv der Identitätssuche. Komplexe Beziehungsgeflechte im Generationenverhältnis sind dabei genauso Thema wie die Spurensuche nach dem unbekannten Vater.
Annegret Soltau vor den Fotovernähungen der Serie Vatersuche. / © PZ/Kalisch
Charakteristisch sind dabei die Porträtfotografien, die zerrissen und als Fragmente mit schwarzem Faden wieder zusammengenäht sind. Grenzen von Alter und biologischer Identität stellt sie mit diesen Collagen nicht nur infrage, sondern überwindet diese auch. In Aufnahmen ihres eigenen Porträts vernäht Soltau anstelle ihres Gesichts Briefe, Dokumente und Zeitungsausschnitte, die im Zusammenhang mit der Recherche nach dem Vater stehen. Dennoch bleibt diese Serie nicht bei der eigenen, persönlichen Erinnerungsarbeit stehen, sondern weist in die Gesellschaft der Nachkriegsgeneration hinein. Geboren 1946 teilt Annegret Soltau das Schicksal vieler Menschen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in fragmentierten Familien aufgewachsen sind.
In einer weiteren Werkreihe vernäht Soltau ihr Porträtfoto mit Dokumenten, die vermeintlich die eigene Identität definieren und doch nur an der Oberfläche kratzen. Geburtsurkunden, Schulzeugnisse, SIM-Karten: Was ist es, was die Biografie eines Menschen ausmacht? Eine Serie, die mit der Sterbeurkunde enden soll und die kollektive Erfahrung der Existenzsuche schonungslos offenlegt.
Die Ausstellung ist noch bis zum 17. August 2025 zu sehen im Städel Museum, Schaumainkai 63, Frankfurt am Main.
https://www.staedelmuseum.de/de/