Der unbekannte Erfinder |
Angela Kalisch |
30.12.2024 12:30 Uhr |
Der deutsche Chemiker Dr. Arthur Eichengrün (1867-1949). Fotografie um 1928. / © akg-images / brandstaetter images / Austrian Archives (S)
»Im Jahre 1941 stand im Ehrensaal der chemischen Abteilung des Deutschen Museums in München ein großes Schauglas, gefüllt mit weißen Kristallen, mit der Aufschrift ›Aspirin; Erfinder Dreser und Hoffmann‹. Dreser hatte mit der Erfindung überhaupt nichts zu tun und Hoffmann führte meine chemischen Anordnungen aus, ohne zunächst das Ziel der Arbeit zu kennen. (…) Am Haupteingang des Museums aber hing ein großes Schild, das Nichtariern das Betreten dieses Instituts verbot! Sapienti sat!« So schrieb Arthur Eichengrün kurz vor seinem Tod in einem Beitrag in der Zeitschrift »Die Pharmazie« im Dezember 1949, anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Schmerzmittels Acetylsalicylsäure (ASS), weltbekannt als Aspirin (1).
Die bemerkenswerte Passage aus dem Artikel beschreibt treffend Eichengrüns unbeugsame Persönlichkeit. Auch 50 Jahre nach der von ihm reklamierten Erfindung setzte er noch alles daran, endlich die Anerkennung zu erhalten, die ihm sein Leben lang verwehrt blieb. Auch von dem Schild am Eingang des Museums, das er als Jude im Jahr 1941 nicht hätte betreten dürfen, hatte er sich nicht abschrecken lassen. Und ließ auch keinen Zweifel daran, dass rückblickend hier wohl einer der Gründe zu finden sein dürfte, warum er nicht nur als Museumsbesucher, sondern auch als Wissenschaftler im eigenen Land nicht willkommen war.
Als Erfinder des Aspirin gilt auch heute offiziell allein Felix Hoffmann (1868-1946). Eichengrün wird lediglich als Teil des Laborteams anerkannt, der mit Hoffmann zur gleichen Zeit bei Bayer tätig war, als ASS synthetisiert wurde. Doch es gibt durchaus Stimmen, die Eichengrüns Darstellung für glaubwürdig halten, darunter die Münchner Chemiehistorikerin Elisabeth Vaupel sowie Walter Sneader, Experte für Medikamentengeschichte von der schottischen Universität Strathclyde, der bereits 1999 Laboraufzeichnungen von Bayer näher unter die Lupe genommen hatte.
Im letzten Jahr ist zudem ein Buch erschienen, das Eichengrüns Leben und Wirken ausführlich würdigt (2). Der preisgekrönte Wissenschaftsjournalist Ulrich Chaussy stieß eher durch Zufall auf die ungewöhnliche Geschichte des jüdischen Chemikers Arthur Eichengrün, der kurioserweise ausgerechnet am Obersalzberg in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hitler ein Ferienhaus besaß. Später wohnte er zudem in Berlin in einem Mehrfamilienhaus mit Göring unter einem Dach.
Laut Chaussy fürchtete Eichengrün diese räumliche Nähe zu den Nationalsozialisten kaum. Zu sicher war er sich, dass seine Erfindungen und Verdienste für Deutschland, vor allem im Ersten Weltkrieg, ihn vor der Verfolgung schützen würden. Tatsächlich dürfte es Göring durchaus bewusst gewesen sein, dass die von Eichengrün entwickelten Kunststoffe eine entscheidende Rolle für die deutsche Luftfahrt gespielt hatten. Auf der Basis von Cellon, Eichengrüns wichtigster Erfindung, entstanden unter anderem Lacke zur Bespannung von Flugzeugen, Splitterschutz für Verbundglas und der nicht brennbare Film.
Im Jahr 1944 wurde Eichengrün dennoch angeklagt und für 14 Monate in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Grund für die Verhaftung war Eichengrüns Versäumnis, einen Brief mit dem von den Nationalsozialisten angeordneten zweiten Vornamen Israel zu unterschreiben. So musste Eichengrün verbittert feststellen, dass am Ende nicht seine Verdienste zählten, sondern er allein auf sein Jüdischsein reduziert wurde.
Die Biographie schildert nicht nur das Leben einer selbstbewussten, schillernden Persönlichkeit, sondern gibt auch einen Einblick in die Geschichte der pharmazeutischen Industrie.