Diabetische Stoffwechsellagen können ebenfalls mit einem stimmbasierten Biomarker detektiert werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Menschen mit Typ-2-Diabetes mit hohen Blutzuckerwerten oder mit einer Neuropathie die häufigsten Stimmmerkmale eine stimmliche Schwäche und Heiserkeit waren. Ein Team der Ontario Tech University in Toronto unter der Leitung von Jaycee Kaufman hat daraufhin ein Früherkennungs- und Monitoring-Tool entworfen und getestet.
192 Nichtdiabetiker und 75 an Typ-2-Diabetes Erkrankte sprachen eine festgelegte Textpassage bis zu sechsmal täglich über zwei Wochen in eine Smartphone-App, was mehr als 18.000 Aufnahmen ergab. Die KI filterte 14 Merkmale heraus, die sich bei nicht diabetischen und bei Personen mit Diabetes unterscheiden. Beim Test konnte die KI mit einer Genauigkeit von 89 Prozent die Erkrankung bei Frauen erkennen; bei Männern lag sie bei 86 Prozent. Hohe Blutglucosespiegel hätten einen Einfluss auf die elastischen Eigenschaften der Stimmbänder, und ein hoher Langzeitzucker könne zu Muskelschwäche und Neuropathie innerhalb des Kehlkopfes führen, vermuten die Autoren.
Die Zulassungsbehörden in den USA (FDA) und in Europa (EMA) haben bislang noch keinen sprachbasierten Biomarker zugelassen; zudem existiert auch noch kein Standardprotokoll für das Sammeln von Sprach- und Stimmproben, schrieb ein Forscherteam um Guy Fagherazzi 2021 in einer Übersichtsarbeit zu dem Thema im Journal »Digital Biomarkers«.
Ein großer Nachteil ist, dass die KI zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch eine Blackbox ist: Wissenschaftler können nicht nachvollziehen, wie die Ergebnisse zustande kommen. Es besteht die Gefahr von falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen und in der Folge von Über- beziehungsweise Unterbehandlung. Stimmbasierte Biomarker sollten den Autoren einer weiteren Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 zufolge eher als Zusatztool angesehen werden, das Ärzten eine Entscheidungshilfe bieten kann (»Mayo Clinic Proceedings«).
Des Weiteren müssen Aspekte des Datenschutzes und des damit einhergehenden Missbrauchspotenzials der Technologie geklärt werden, denn die Stimme wird als nicht anonym eingestuft. Forschende sind sich einig, dass es weiterer großer prospektiver Studien mit linguistisch diversen Populationen bedarf, um verlässliche Messungen und Ergebnisse zu generieren.
Mit dem Einzug der Telemedizin und der Verbreitung von Smartphones bieten sich aber durch KI-basierte Sprachanalysetools zahlreiche Möglichkeiten für eine verbesserte Gesundheitsversorgung besonders in abgelegenen Regionen oder bei immobilen Patienten. So könnten etwa Therapien schneller eingeleitet oder angepasst werden (Beispiel Herzinsuffizienz). Klinische Studien könnten zeit- und kostensparend mit mehr Teilnehmenden durchgeführt werden, was insbesondere bei Arzneimittelstudien dazu beitragen könnte, vielversprechende Wirkstoffe sicherer zu erkennen.