Der größte Rivale wohnt nebenan |
Jennifer Evans |
09.09.2024 07:00 Uhr |
Der Böse-Nachbar-Effekt: In der eigenen Gruppe zeigen wir oft mehr Kampfgeist als Fremden gegenüber. / © Shutterstock/BearFotos
In den Verhaltens- und Biowissenschaften gibt es viele Belege dafür, dass Menschen auf der ganzen Welt Gruppenliebe zeigen. Das bedeutet, sie behandeln Mitglieder der eigenen sprachlichen, politischen oder nationalen Gruppe bevorzugt. Bei Interaktion innerhalb ihrer Gruppe sind sie also eher bereit, anderen Vorteile zu gewähren. Ziel dieses Verhaltens ist es, gemeinsames Wohlergehen zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund müssten sie eigentlich auch davor zurückschrecken, in Wettbewerb mit einem Mitglied aus der eigenen Gruppe zu treten. Das ist aber nicht der Fall, wie eine Analyse unter 51 Nationen ergeben hat. Die Tendenz, gegenüber Personen aus der eigenen Gruppe großzügiger und vertrauensvoller zu sein, stand nämlich in keinem Zusammenhang mit der Tendenz, stärker mit Personen aus der eigenen Gruppe zu konkurrieren. Stattdessen treten Menschen oft sogar stärker in Konkurrenzkampf mit jemandem, der ihnen nahesteht.
Das nennt die Wissenschaft »Nasty Neighbor Effect«, was so viel bedeutet wie »Böser-Nachbar-Effekt«. Als mögliche Erklärung für das Verhalten erachtet das Team von Wissenschaftlern um Dr. Angelo Romano vom psychologischen Institut der niederländischen Universität Leiden, dass Menschen Bedrohungen von Mitgliedern der eigenen Gruppe eher antizipieren können als Gefährdungen, die von Fremden ausgehen. Das trifft demnach insbesondere für kollektivistische Gesellschaften zu.
Auch weisen die Studienautoren darauf hin, dass gruppeninterne Streitigkeiten mindestens ebenso gewalttätig ausfallen können wie Aggressionen gegenüber fremden Gruppen. Speziell seit Ende des Zweiten Weltkriegs seien Konflikte und Gewalt innerhalb von Nationalstaaten mindestens genauso oft anzutreffen, wenn nicht sogar häufiger, als Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Gruppen, heißt es.
Die gegenseitige Abhängigkeit innerhalb einer Gruppe könne dazu führen, dass Individuen häufiger um Status und Anteile an gemeinsam geschaffenen Gütern konkurrierten als mit Fremden. Aus dieser Perspektive kann nach Auffassung der Wissenschaftler gruppeninterne Kooperation durchaus neben nachbarschaftlicher Bösartigkeit koexistieren, weil beide Verhaltensweisen unterschiedliche Funktionen erfüllen.
Auf der einen Seite sei der Böse-Nachbar-Effekt zwar für das Individuum riskant und könne die Solidarität innerhalb der eigenen Gruppe untergraben. Auf der anderen Seite könne er aber auch den Status des Einzelnen innerhalb seiner Gruppe sowie seinen privilegierten Zugang zu Gruppenressourcen sichern.
Das Fazit: Anstatt entweder gruppenintern zu kooperieren oder böse zu sein, wechseln Menschen flexibel zwischen beiden Verhaltensweisen hin und her – entweder um ihrer Gruppe oder sich selbst zu dienen. Solche Nachbarschaftsfeindlichkeiten sind übrigens auch bei Tieren zu beobachten, darunter Insekten, Vögel sowie einige Biber- und Affenarten.