| Laura Rudolph |
| 18.12.2025 08:00 Uhr |
Jährlich erkranken in Deutschland rund 500 Kinder bis zum zweiten Geburtstag an Typ-1-Diabetes. / © Getty Images/Irina Belova
PZ: Jährlich entwickeln laut dem Robert-Koch-Institut mehr als 4000 Kinder und Jugendliche in Deutschland Typ-1-Diabetes, überwiegend im Alter zwischen 3 und 13 Jahren. Seltener erkranken auch jüngere Kinder. Welche Herausforderungen kommen dann auf die Eltern des Kleinkindes zu?
Ziegler: Die Herausforderungen für Eltern von Kleinkindern, die einen Typ-1-Diabetes entwickeln, sind mannigfaltig und reichen von ganz banalen Dingen – etwa der Frage, wie die Essenssituation in der Familie gestaltet werden soll – bis hin zu existenziellen Sorgen, wenn beispielsweise ein Elternteil seine Arbeitszeit reduzieren muss, um das neu erkrankte Kind versorgen zu können. Hier sind insbesondere die Mütter benachteiligt: Laut einer 2021 im Journal »Diabetes Care« veröffentlichten Querschnittsstudie eines Forschungsteams um Dr. Andrea Dehn-Hindenberg von der Medizinischen Hochschule Hannover reduziert rund ein Viertel der Mütter die Arbeitszeit oder gibt die Arbeit zugunsten der Familie auf.
Funktionsoberarzt und Kinderdiabetologe Dr. Julian Ziegler / © Dirk Deckbar
PZ: Und welche emotionalen Belastungen erleben Familien in dieser Situation?
Ziegler: Emotional sind Familien stark belastet, vor allem, wenn Kinder sehr früh erkranken – denn sie merken durchaus, dass sie krank sind. Die Maßnahmen am eigenen Körper wie Blutzuckermessen, Spritzen, Sensor- und Insulinpumpenanlage und auch der stationäre Aufenthalt werden in der Regel als sehr bedrohlich wahrgenommen. Viele Kinder fühlen sich ausgeliefert. Wir sind dankbar, dass unsere Kinderklinik in Tübingen auch durch die Unterstützung der Stiftung »Hilfe für kranke Kinder« eine sehr kindgerechte Umgebung schaffen konnte. So lenken ein Spielzimmer mit Erzieherinnen und Erziehern, ein Aquarium, Spielplätze und eine Kunsttherapeutin die Kinder von den Belastungen des stationären Aufenthalts ab.
PZ: Welche Vorteile bringen moderne Sensoren und Insulinpumpen für Kleinkinder?
Ziegler: Wir Diabetologen versuchen, die Diabeteslast durch den Einsatz moderner Technologien sowohl für das erkrankte Kind als auch für die ganze Familie und die Betreuungspersonen zu reduzieren. Insulinpumpen können die Flexibilität beim Essen sowie die Bewältigung des Alltags verbessern. Die Hersteller haben die Insulinberechnung in den letzten Jahren durch sogenannte Bolusrechner stark vereinfacht. Die Oberfläche dieser Rechner ist sehr intuitiv und einfach gehalten. Es müssen in der Regel nur die verzehrten Kohlenhydratmengen eingegeben werden, alles Weitere erledigt dann die Insulinpumpe. Glucose-Sensoren können dank Alarmfunktionen die Angst vor Akutkomplikationen reduzieren. Zudem senkt der Einsatz der Diabetestechnologien den Langzeitblutzuckerwert HbA1c und damit perspektivisch auch das Risiko für Folgeerkrankungen.
PZ: Ist es grundsätzlich möglich, dass Kinder mit Diabetes einen Regelkindergarten besuchen?
Ziegler: Wir befürworten den Besuch eines Regelkindergartens für alle Kinder mit Diabetes mellitus – unabhängig von ihrer Therapieform. Der weitaus größte Anteil der Kinder im Kindergartenalter wird in Deutschland primär auf Insulinpumpen eingestellt. Damit ließ sich im Vergleich zu einer Therapie mit Insulinpens die Rate an Akutkomplikation wie schweren Unterzuckerungen deutlich reduzieren. Gleichzeitig steigt aber der Grad der Technisierung der Erkrankung – und erzeugt damit Ängste und oft auch eine Abwehrhaltung des Betreuungspersonals.
PZ: Was bedeutet das konkret?
Ziegler: Groteskerweise kommt es durch den Einsatz moderner Diabetestechnologien immer wieder zu einem vermehrten Sicherheitsbedürfnis von Kindertageseinrichtungen, da Glucose-Verläufe jetzt in Echtzeit nachverfolgt werden können. Bei den früheren punktuellen Messungen mit Kapillarblut war dies nicht möglich. Eine minutengenaue Aufzeichnung führt jedoch häufig zu unbegründeten Ängsten beim Personal vor Unterzuckerungen und dazu, dass dieses die Betreuungsverantwortung nicht übernehmen möchte. In der Folge lehnt eine Einrichtung den Kita-Besuch nicht selten sogar ab.
Immer wieder hören wir von einem Betretungsverbot des Kindes ohne adäquate Schulung des gesamten Personals. Hier versuchen wir frühzeitig mit Schulungsangeboten entgegenzuwirken. In der Regel können die allermeisten Kinder dann auch ihren ursprünglichen Kindergarten besuchen. Manchmal ist trotz einer umfangreichen Schulung der Erzieherinnen und Erzieher eine Inklusionskraft notwendig.
PZ: Gibt es gesetzliche Vorgaben für Diabetesschulungen von Betreuungspersonen?
Ziegler: Gesetzlich vorgeschriebene Schulungen für das betreuende Personal gibt es nicht. Es ist jedoch sinnvoll – und zur Sicherheit des erkrankten Kindes auch notwendig –, Erzieherinnen und Erzieher früh in Basismaßnahmen der Diabetestherapie zu schulen. Insbesondere muss gezeigt und geübt werden, wie man den Kohlenhydratanteil der Nahrung berechnet und die verzehrten Mengen in die Insulinpumpe eingibt. Die Behandlung von drohenden Unterzuckerungen muss ebenfalls geschult werden, wie auch ein Notfallmanagement für den seltenen Fall einer schweren Unterzuckerung.
Eltern können diese Tätigkeiten an die Erzieherinnen und Erzieher übertragen, auch wenn diese nicht zum medizinischen Personal gehören. Sollte trotz Schulung einmal ein Kind zu Schaden kommen, greift die Haftungsbeschränkung des Sozialgesetzbuches. Hiervon ausgenommen ist nur der Vorsatz. Damit ist gemeint, dass bei einem Unfall im Zusammenhang mit der Kita zivilrechtliche Schadensersatzansprüche gegen Träger oder Beschäftigte grundsätzlich ausgeschlossen sind, es sei denn, diese handeln vorsätzlich falsch oder führen bewusst Risiken herbei.
PZ: Wie funktioniert der Kindergartenalltag, wenn ein Kind eine Insulinpumpe hat, sie aber noch nicht selbst bedienen kann?
Ziegler: Bei Kindergarten- und Schulkindern bis zur dritten Klasse bedienen die Betreuungspersonen die Insulinpumpe, denn das Zahlenverständnis ist in den ersten beiden Grundschuljahren nicht oder nur unzureichend vorhanden, um eine sichere Eingabe der Kohlenhydratmenge ohne Aufsicht zu empfehlen. Ausnahmen bestätigen hier natürlich die Regel.
PZ: Können Eltern die Insulingabe aus der Ferne steuern?
Ziegler: Die in Deutschland zugelassenen Insulinpumpen erlauben keine Abgabe von Insulin aus der Ferne. Es gibt zwar sogenannte Do-it-yourself-Systeme, die eine solche Abgabe ermöglichen; da diese aber nicht zugelassen sind, können wir sie nicht empfehlen und beraten Familien auch nicht dazu. Was Eltern aus der Ferne aber tun können, ist, die Blutzuckerverläufe oder die Funktion der Insulinpumpe über sogenannte Follower-Apps zu kontrollieren. Dies bringt auf der einen Seite Sicherheit für das Kind und das Betreuungspersonal, führt jedoch auf der anderen Seite zu einer permanenten Ablenkung der Eltern bei ihrer beruflichen Tätigkeit und fordert diese auch in Zeiten, in denen sie für die Betreuung des Kindes primär nicht verantwortlich sind.
PZ: Vielen Dank für das interessante Gespräch.