Dem Entourage-Effekt auf der Spur |
Annette Rößler |
23.10.2025 15:00 Uhr |
Großaufnahme einer Cannabisblüte. Das ätherische Öl von weiblichen Cannabispflanzen enthält eine Vielzahl an Cannabinoiden. Für das charakteristische Aroma sorgen allerdings vor allem die Terpene. / © Adobe Stock/roxxyphotos
Als Entourage bezeichnete man früher die Gefolgschaft eines Herrschers und heute allgemein Menschen im Umfeld einer bekannten Person, die über diese Nähe auch Einfluss auf die Entscheidungen des Prominenten nehmen können. Analog dazu nennt man es Entourage-Effekt, wenn ein pflanzliches Arzneimittel anders wirkt als die isolierten Einzelsubstanzen. Zwar lassen sich auch bei den Phytopharmaka »prominente« Inhaltsstoffe identifizieren, auf denen die Wirkung hauptsächlich beruht. Diese kann aber durch das Zusammenspiel der Entourage, also der anderen Inhaltsstoffe, deutlich moduliert werden.
Bei Cannabis sind die Promis unter den Inhaltsstoffen zweifellos das Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und das Cannabidiol (CBD). Wie Professor Dr. Jürg Gertsch und Felix Huwyler von der Universität Bern in der Ausgabe 5/2025 der DPhG-Mitgliederzeitschrift »Pharmakon« ausführen, gibt es neben diesen beiden Hauptcannabinoiden aber noch zahlreiche Nebencannabinoide, die sehr viel weniger gut erforscht sind – insgesamt mehr als 150 Substanzen. Schließlich kann auch das Terpenprofil bei der Wirkung ein Wörtchen mitreden.
Die meisten Phytocannabinoide werden in der Pflanze aus der zentralen Vorläufersubstanz Cannabigerolsäure (CBGA) gebildet, indem spezifische Synthasen diese in verschiedene saure Endprodukte umwandeln. So entstehen unter anderem Δ9-Tetrahydrocannabinolsäure (THCA) und Cannabidiolsäure (CBDA), aus denen unter Hitzeeinwirkung die pharmakologisch aktiven neutralen Formen THC und CBD werden. Weitere Cannabinoide sind etwa Cannabinol (CBN), Tetrahydrocannabivarin (THCV), Cannabigerol (CBG) und Δ8-THC, ein Δ9-THC-Isomer, das durch Licht und Wärme entsteht.
Die Phytocannabinoide interagieren auf unterschiedliche Weise mit dem Endocannabinoidsystem (ECS), indem sie die Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2 aktivieren oder modulieren. Das ECS reguliert die zentrale Neurotransmission, das Immunsystem und den Metabolismus. Der CB1 kommt vor allem, aber nicht nur im Gehirn vor – dort ist er laut den Autoren der häufigste G-Protein-gekoppelte Rezeptor. Darüber hinaus finden sich der CB1 und auch der CB2 in sehr vielen anderen Geweben.
»Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. / © Avoxa
Die natürlichen Liganden von CB1 und CB2 sind die Endocannabinoide Anandamid und 2-Arachidonoylglycerol. Sie wirken als Vollagonisten. THC und sein halbsynthetisches, chemisch identisches Pendant Dronabinol sind dagegen Teilagonisten am CB1 mit längerer Halbwertszeit, leicht abweichender Rezeptorbindung und unterschiedlicher Signaltransduktion. Zudem bindet THC an CB2 in Immunzellen. THC wirkt psychotrop, analgetisch (besonders bei chronischen und neuropathischen Schmerzen), antiemetisch, appetitanregend, antikonvulsiv (vor allem in Kombination mit CBD), sedativ, anxiolytisch, euphorisierend und antiphlogistisch. Dementsprechend wird THC/Dronabinol angewendet bei Chemotherapie-induzierter Übelkeit und Erbrechen, Appetitverlust/Kachexie, Schmerzen und Spastik
Im Vergleich zu THC zeigt CBD eine deutlich geringere Affinität zu CB1 und CB2, an denen es als negativer allosterischer Modulator fungiert. CBD wirkt deshalb nicht psychotrop, sondern schwächt im Gegenteil das propsychotische Risiko von THC ab. Darüber hinaus wirkt CBD anxiolytisch, antiphlogistisch, neuroprotektiv, antidepressiv und antikonvulsiv. Therapeutisch wird es bei schweren Epilepsieformen angewendet, wobei unklar ist, ob die Wirkung in dieser Indikation tatsächlich auf der Modulation der CB-abhängigen Signaltransduktion beruht oder womöglich auf antiphlogistischen beziehungsweise anderen Effekten.
Das Nebencannabinoid THCV unterscheidet sich von THC nur geringfügig: Die Propyl-Seitenkette ist drei statt fünf C-Atome lang. Laut den Autoren hat THCV dosisabhängig verschiedene Effekte – in geringer Konzentration ist es ein CB1-Antagonist, in hoher ein partieller Agonist – und könnte appetitreduzierend, blutzuckerstabilisierend und anxiolytisch wirksam sein. THCV interagiert zudem mit weiteren Zielstrukturen, darunter bestimmte Ionenkanäle (TRP-Kanäle). An diesen sowie an α2-Adrenozeptoren greift auch CBG an, das möglicherweise antiphlogistische, neuroprotektive und anxiolytische, aber keine psychotropen Wirkungen vermittelt.
CBN ist ein Oxidationsprodukt von THC mit geringerer Affinität zum CB1-Rezeptor, das leicht sedierend wirkt. Analytisch wird es als Marker für die Lagerungsbedingungen beziehungsweise das Alter von Cannabis genutzt und in Studien bei Schlafstörungen sowie bei chronischen Entzündungen getestet.
Die zahlreichen weiteren Nebencannabinoide, die in Cannabis in unterschiedlichen Mengen vorkommen, seien teilweise pharmakologisch vielversprechend, aber noch kaum erforscht, berichten Gertsch und Huwyler, die in ihrem Labor einen Teil dieser Grundlagenforschung leisten. Die Mengenverteilung der Inhaltsstoffe unterscheidet sich von Sorte zu Sorte stark. Die verschiedenen, anhand ihrer Inhaltsstoffe chemisch charakterisierten Varianten werden auch als Chemovare bezeichnet.
Für die Unterscheidung wird hauptsächlich das Cannabinoidprofil der weiblichen Blüte herangezogen. Am Entourage-Effekt beteiligt ist darüber hinaus auch das Terpenprofil. Die Cannabispflanze synthetisiere »eine Vielzahl relativ gewöhnlicher Terpene«, die bis auf wenige Ausnahmen auch in anderen Pflanzen vorkämen, schreiben die Autoren. Hierzu zählen etwa D-Limonen, β-Myrcen, α-Pinen, Linalool, E-β-Caryophyllen, Caryophyllenoxid, E-β-Farnesen und α-Caryophyllen (Humulen). Die Terpene und ihre Oxidationsprodukte seien für den charakteristischen Geruch von Cannabis verantwortlich.
Obwohl die klinische Evidenz für einen relevanten Entourage-Effekt bei Cannabis begrenzt sei, laute eine derzeit gängige Hypothese, dass THC der bestimmende Hauptwirkstoff ist, dessen Effekte durch Begleitstoffe moduliert werden. Präklinische Studien hätten teils deutliche Unterschiede in der Wirkung von Vollspektrumextrakten im Vergleich zu isoliertem THC oder CBD gezeigt. Die Entwicklung von standardisierten Cannabisextrakten, optimierten halbsynthetischen Cannabinoiden oder auch definierten Stoffkombinationen könnte künftig einen großen Fortschritt im Vergleich zur empirischen Anwendung von Cannabisblüten darstellen.