Datenberge mit KI bewältigen |
Seltene und sehr seltene Nebenwirkungen können meist erst nach der Markteinführung eines Medikaments detektiert werden, wenn mehr Menschen es anwenden als im Rahmen von Studien. / Foto: Adobe Stock/PhotoSG
Klinische Studien vor der Zulassung erfassen das Sicherheitsprofil von neuen Arzneistoffen in der Regel nur unvollständig. So treten seltene und sehr seltene unerwünschte Arzneimittelwirkungen in Studien oft nicht auf, da ihre Dauer zeitlich begrenzt ist und die Studienpopulation stark selektiert ist. Zulassungsinhaber sind daher verpflichtet, die Sicherheit ihrer Arzneimittel kontinuierlich auf dem Markt zu überwachen. Helfen könnten dabei zukünftig künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen (ML).
Was ist der Unterschied zwischen KI und ML? KI ist ein Teilgebiet der Informatik. Sie erkennt und sortiert Informationen aus Eingabedaten und imitiert damit menschliche Intelligenz. Wonach eine KI die Daten sortiert, kann entweder programmiert sein oder durch ML generiert werden: Bei ML sind einem System keine Lösungswege vorgegeben, sondern es handelt sich um Algorithmen, die durch Wiederholung von Vorgängen und das Einbeziehen des jeweiligen – erfolgreichen oder nicht erfolgreichen – Ausgangs nach und nach lernen, eine Aufgabe zu erfüllen.
Ein möglicher Einsatzbereich solcher Systeme in der Pharmakovigilanz ist das Management von Sicherheitssignalen. Diese können aus unterschiedlichen Quellen wie Spontanmeldesystemen, wissenschaftlicher Literatur, biomedizinischen Datenbanken oder elektronischen Gesundheitsakten stammen. Es handelt sich dabei um Informationen zu einem bis dahin unbekannten oder so nicht bekannten unerwünschten Ereignis, das durch ein Arzneimittel verursacht worden sein könnte. Ob tatsächlich eine Kausalität besteht, bewerten klinische Experten.
KI/ML könnten beim Sicherheitssignalmanagement die Geschwindigkeit der Datenanalyse erhöhen und die Genauigkeit verbessern. Außer Nebenwirkungen könnten auf diese Weise auch Wechselwirkungen effizienter erkannt werden. Zudem könnte der Einsatz von KI/ML dabei helfen, dem großen Problem der Unterberichterstattung besser Herr zu werden.
In Social-Media-Posts können sich Sicherheitssignale zu Arzneimitteln verbergen. Meist sind diese dann aber umgangssprachlich umschrieben und deshalb nur schwer zu identifizieren. / Foto: Getty Images/Tony Anderson
Längst nicht alle unerwünschten Arzneimittelereignisse werden nämlich gemeldet. Vernachlässigt werden insbesondere bekannte oder nicht schwerwiegende Ereignisse, aber auch solche, die mit Missbrauch, Fehlanwendung oder Medikationsfehlern verbunden sind. Einige Patienten, die ihre Erfahrungen nicht offiziell melden, teilen sie in sozialen Medien – um sich zu vergewissern, dass sie mit dem Problem nicht allein sind, oder weil sie sich Ratschläge erhoffen.
Diese Angaben sind jedoch oft unstrukturiert und verwenden statt medizinischer Terminologie Umgangssprache oder Emojis und Emoticons. Medikamente werden mit verschiedenen, mitunter falsch geschriebenen Marken- oder Gattungsnamen bezeichnet oder erhalten Spitznamen. Entsprechend mühsam ist die Suche nach Sicherheitssignalen in den sozialen Medien.
KI/ML könnten diesen Prozess beschleunigen und in größerem Umfang ermöglichen. Das belegt eine Studie aus dem Jahr 2018, in der die Leistung einer ML-basierten Methode mit der von menschlichen Pharmakovigilanz-Experten verglichen wurde (»Drug Safety«, DOI: 10.1007/s40264-018-0641-7). Aus 311.189 Beiträgen bei Twitter, Tumblr, Facebook und anderen Medien, in denen Roche-Produkte und -Marken in Kombination mit medizinischen und wissenschaftlichen Begriffen erwähnt wurden, galt es, valide Sicherheitssignale herauszufiltern. Das ML-Modell wurde während der Studie immer weiter angepasst und arbeitete dadurch immer genauer. Der Zeitvorteil war am Ende immens: ML benötigte 48 Stunden für eine Aufgabe, für die menschliche Experten schätzungsweise 44.000 Stunden benötigt hätten.
Bei der Nutzung von Daten aus sozialen Medien gibt es jedoch ungelöste Fragen, etwa ob Fälle nachverfolgt und Berichte auf Richtigkeit überprüft werden müssen und können. Zu beachten ist ferner, dass sich Patienten in sozialen Medien mit einer Online-Community austauschen wollen und sich möglicherweise nicht bewusst sind, dass ein »digitales Zuhören« stattfindet. Das geben die Autoren eines Reviews zu bedenken, der 2018 in »Therapeutic Advances in Drug Safety« erschien (DOI: 10.1177/2042098618789596).
Wie bei Arzneistoffen müssen auch bei Impfstoffen Verdachtsfälle von Nebenwirkungen fortlaufend erfasst, validiert und bewertet werden. Im »Bulletin für Arzneimittelsicherheit« (4/2023) präsentierten Autoren vom Paul-Ehrlich-Institut (PEI) mehrere Möglichkeiten der Nutzung von KI/ML im Bereich der Impfstoff-Pharmakovigilanz. So seien zur Kodierung von Nebenwirkungen nach der international eingesetzten Systematik der MedDRA (Medical Dictionary for Regulatory Activities) bereits vor Beginn der Covid-19-Impfkampagne ML-Algorithmen integriert worden. Damit ließen sich gemeldete Verdachtsfälle digital effizienter prozessieren.
KI könne zudem bereits bei der Meldung von Nebenwirkungen auf der bundeseinheitlichen Plattform www.nebenwirkungen.bund.de zum Einsatz kommen. So könne etwa eine KI-unterstützte Eingabeassistenz die Qualität der Daten verbessern, indem etwa Plausibilitätsprüfungen den Meldenden Eingabefehler direkt korrigieren lassen, sodass später weniger Nachfragen erforderlich sind. Kontextabhängige Zusatzinformationen können abhängig von Patientencharakteristika wie Alter, Geschlecht oder Schwangerschaft abgefragt werden, ebenso spezifische Symptome und Verläufe. Ähnliche Verbesserungen seien für mobile Applikationen wie die SafeVac-App des PEI vorgesehen.
Die Autoren wiesen darauf hin, dass allein von 2010 bis 2020 die Publikationsrate zum Thema ML in der Pharmakovigilanz um etwa das Sechsfache zugenommen habe. Um die Nutzung der neuen Möglichkeiten werden Unternehmen und Behörden in Zukunft vermutlich kaum noch herumkommen.
In einem 2022 gestarteten Projekt namens »Regulatorische Nutzung KI-gestützter Methoden zur effizienten Bewertung und Regulation biomedizinischen Arzneimitteln (KIMERBA)« will das PEI zunächst Anträge für klinische Prüfungen mithilfe von KI kategorisieren und mit bereits bearbeiteten Anträgen vergleichen (»regulatorisches Gedächtnis«). Den Mitarbeitern der Behörde soll das erleichtern, die Anträge zu bewerten. Im zweiten Teilprojekt soll ein ähnliches Vorgehen bei der Zulassung von Blutkomponenten zur Transfusion erprobt werden. Nebenwirkungen sollen im dritten Teilprojekt erfasst und bewertet werden. Ziel ist es, Meldungen, die über eine Smartphone-App gesendet werden, automatisch zu analysieren, um neue Risiken schnell zu erkennen.
Obwohl KI/ML künftig also einige Pharmakovigilanz-Prozesse erleichtern und beschleunigen könnten, haben die neuen Technologien auch Limitationen. Denn Sicherheitsdaten sind sehr heterogen und zugrunde liegende Mechanismen sind oft noch unbekannt. Die Analyse wird zudem dadurch erschwert, dass viele Informationen nur unvollständig erfasst und weitergegeben werden. Auch wird keine KI in absehbarer Zukunft die Frage beantworten können, wie viel ein Arzneimittel schaden darf, damit der Nutzen noch überwiegt.
Mehr Daten bedeuten also nicht zwangsläufig mehr Sicherheit. Wenn das Volumen an automatisiert gemeldeten Berichten ansteigt, nimmt auch das Risiko für Mehrfachmeldungen, Redundanz und Fehler zu. Menschliche Expertise wird somit in einigen Bereichen vorerst unverzichtbar bleiben. Nicht zuletzt stehen beim Einsatz von KI Fragen der Datenfreigabe und -sicherheit einer möglicherweise verbesserten Patientensicherheit gegenüber.