»Das Engpassproblem wurde nicht gelöst« |
Alexander Müller |
11.03.2024 09:00 Uhr |
Gibt es politische Lösungen für die Engpasskrise? Der BPI-Vorsitzende Oliver Kirst (rechts) sowie BPI-Geschäftsführer Kai Joachimsen skizzierten gegenüber der PZ, was ihrer Meinung nach helfen würde. / Foto: BPI/Kruppa, Rafalzyk
Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) hat mehrfach zu Protokoll gegeben, dass man insbesondere bei Generika die »Preisschraube überdreht« habe und jetzt gegensteuern müsse. »Der erste Schritt zur Heilung ist die Diagnose«, kommentiert Oliver Kirst, Vorsitzender des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie (BPI).
Und im nächsten Schritt hat der Bundestag das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) beschlossen. Für bestimmte Arzneimittelgruppen wurden Ausnahmen geschaffen, um die Versorgung zu sichern. Doch für 98 Prozent der Arzneimittel der Grundversorgung löse das Gesetz das Engpassproblem eben nicht, kritisiert Kirst. »Wir halten es nach wie vor für schwer erklärbar, dass nur Antibiotika und Kinderarzneimittel in den Fokus rücken. Viele andere Arzneimittel für teils chronisch kranke Patientinnen und Patienten sind durch den Gesetzesentwurf nicht erfasst, das gilt zum Beispiel auch für Onkologika«, so der BPI-Chef.
Stattdessen würden der Industrie weitere bürokratische und finanzielle Belastungen wie sanktionsbewehrte Lager- und Meldepflichten auferlegt. Aus Sicht des BPI ist das keine Lösung: »Wenn ich einen Engpass sechs Monate vorher melden muss, dann habe ich den nicht«, so BPI-Geschäftsführer Kai Joachimsen.
Es ist aus Sicht der Hersteller vor allem die »ausufernde Sparpolitik der Krankenkassen«, die zur aktuellen Versorgungssituation geführt hat. Bei versorgungsrelevanten Wirkstoffen seien oftmals nur wenige Anbieter im Markt und bei den Ausgangsstoffen sei der Markt oft noch konzentrierter. »Es klingt fast nach einem schlechten Scherz, dass beispielsweise bei dem Antibiotikum Penicillin, einem der häufigsten verschriebenen Medikamente, gerade die Vorstufen maßgeblich in Wuhan produziert werden«, so Joachimsen. Die chinesische Stadt gilt als Ausgangsort der Corona-Pandemie. »Wenn wir keine Antibiotika mehr haben, müssen wir uns um sowas wie Covid keine Sorgen mehr machen«, gibt Kirst zu bedenken.
Natürlich stelle der BPI nicht die Globalisierung grundsätzlich infrage, doch gerade in angespannten geopolitischen Situationen sei eine zu große Abhängigkeit eine erhebliche Bedrohung, so Kirst. »Das Problem ist nicht, dass auch in Asien produziert wird. Sondern das fast nur noch dort produziert wird.«
Selbst auf Ebene der Krankenkassen sei mittlerweile verstanden worden, dass das aktuelle Modell der Rabattverträge so nicht weitergeführt werden kann, ist die BPI-Spitze überzeugt. Die anhaltenden Lieferengpässe haben bei der Wahrnehmung des Problems sicherlich geholfen, einzelne Kassen haben auch schon versucht, andere Aspekte statt lediglich dem Preis als Ausschreibungskriterium zu berücksichtigen. Durchgesetzt hat sich das bislang aber nicht, auch aufgrund europäischer Vorgaben im Vergaberecht.
Der BPI hat seine Vorstellungen von nachhaltigen Rabattverträgen bereits mehrfach bei der Politik vorgestellt. Das »4-3-2-1-Modell« sieht als Voraussetzung für Ausschreibungen vor, dass mindestens vier Anbieter im Markt sind, von denen dann drei Anbieter einen Zuschlag erhalten sollen, von denen wiederum mindestens zwei von unterschiedlichen Lieferanten Wirkstoffe beziehen und wenigstens ein Hersteller maßgeblich in Deutschland oder Europa produziert. Für versorgungskritische Arzneimittel sollte es gar keine Rabattverträge mehr geben.
Minister Lauterbach hat es sich zum Ziel gesetzt, die Pharmaproduktion in Europa zu stärken. Jeder Schritt in diese Richtung wird öffentlich gefeiert, etwa das geplante 2,3-Milliarden-Euro-Investment des US-Pharmakonzern Lilly in einen neuen Produktionsstandort in Rheinland-Pfalz.
Der BPI verweist auf die notwendigen Investitionen und den Faktor Zeit: »Der Aufbau von Produktionsanlagen dauert etwa fünf Jahre. Eine Arzneimittelproduktion in Europa wird automatisch zu höheren Preisen führen. Doch die damit gewonnene größere Versorgungssicherheit sollte uns das wert sein. Es darf nicht mehr allein um den günstigsten Preis gehen«, so Kirst. Oberstes Ziel müsse es sein, die weitere Abwanderung zu verhindern und den heimischen Pharmastandort zu fördern.
Der BPI habe im Schulterschluss mit dem Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) die Gespräche mit der Bundesregierung intensiv vorangetrieben. Das Bundeskabinett hatte am 13. Dezember 2023 seine Nationale Pharmastrategie beschlossen mit bedeutenden Maßnahmen zur Stärkung und zum Ausbau des Innovations- und Produktionsstandortes Deutschland. »Auch in der Rezession hat die Politik erkannt, wie relevant eine stabile nationale Wirtschaft ist und dass Pharma hierzulande eine Leitindustrie ist«, so Joachimsen. Für jeden Euro direkte Bruttowertschöpfung ausgelöst durch die Produktion von Humanarzneimitteln entstünden zusätzliche 0,70 Euro Bruttowertschöpfung durch indirekte und induzierte Ausstrahleffekte.
Neben einem anderen Rabattvertragsmodell stehen auf dem Wunschzettel des BPI: die Streichung der automatischen Substitution biotechnologischer Arzneimittel in der Apotheke, ein umfassender Inflationsausgleich für alle vom Preisstopp betroffenen Arzneimittel, eine Inflationsbereinigung des Festbetragsmarkts und weitere Anreizmodelle im Bereich der Reserveantibiotika.
Gerade versorgungsrelevante Arzneimittel wie Antibiotika würden heute fast ausschließlich in China produziert. In Europa gibt es nur noch eine einzige Produktionsstätte. Eine Rückverlagerung und der Aufbau neuer Produktionsanlagen würden erhebliche finanzielle Investitionen erfordern und Jahre dauern, so Kirst. »Wir widersprechen damit der Aussage von Gesundheitsminister Karl Lauterbach eindeutig, dass die Herstellung generischer Antibiotika‚ innerhalb weniger Monate‘ aufgebaut werden kann.«
Am 26. Januar hatten das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesumweltministerium den Referentenentwurf für ein Medizinforschungsgesetz (MFG) vorgelegt. Positiv sieht der BPI, dass pharmazeutische Unternehmen praxistaugliche Unterstützung zur Vorbereitung und Durchführung klinischer Prüfungen erhalten. Denn hier sei Deutschland zwischenzeitlich abgehängt worden: »Wir waren bei der Zahl durchgeführter Studien einmal auf Platz 2 hinter den USA, heute sind wir die Nummer 6«, so Kirst.
Kritisch am aktuellen Gesetzesvorhaben aus dem BMG sieht der BPI die geplante Einrichtung einer Bundes-Ethik-Kommission, die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelt werden soll. Es sei unklar, inwiefern eine solche Institution der im Strategiepapier der Bundesregierung angekündigten Harmonisierung aller Ethik-Kommissionen im Land dienen solle.
Der BPI verlangt zudem, dass die mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eingeführte Regelungen wieder zurückgenommen werden, etwa die AMNOG-Leitplanken sowie die Einführung höherer Abschläge für Kombinationstherapien. Denn bei der Nutzenbewertung bekomme ein gleich gutes Präparat heute einen Discount, ein geringer Zusatznutzen sei ebenfalls nicht monetarisierbar, da maximal der gleiche Erstattungsbetrag gezahlt werde. »Schrittinnovationen werden damit nicht honoriert«, so Kirst. Das sei der falsche Ansatz.
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