Das Chamäleon der Gastroenterologie |
Annette Rößler |
16.05.2025 16:20 Uhr |
Kinder mit unerkannter Zöliakie sind häufig klein und zart für ihr Alter. Wenn sie sich glutenfrei ernähren, normalisiert sich die Wachstumsgeschwindigkeit innerhalb von sechs Monaten. / © Getty Images/Catherine Falls Commercial
Die Zöliakie ist eine chronische Entzündung des Dünndarms, die auch als glutensensitive Enteropathie oder einheimische Sprue bezeichnet wird. Sie sei »eine der am besten charakterisierten immunologischen Erkrankungen«, heißt es in einem Übersichtsartikel im »Deutschen Ärzteblatt«. Um eine Zöliakie zu entwickeln, braucht es demnach eine genetische Prädisposition (bestimmte HLA-Allele) und einen Auslöser (Gluten). Kennzeichnend sind zudem Autoantikörper gegen das körpereigene Enzym Gewebetransglutaminase (tTG), auch Transglutaminase-2 (TG2) genannt.
Gluten ist das Speicherprotein vieler Getreidesorten wie Weizen, Dinkel und Roggen. Es ist löslich in Alkohol, aber unlöslich in Wasser. Wird Mehl aus diesen Getreiden mit Wasser vermischt, sorgt Gluten dafür, dass sich eine zähe, klebrige Masse bildet, weshalb Gluten auch als Klebeeiweiß bezeichnet wird. Gluten ist keine definierte Einzelsubstanz, sondern ein Sammelbegriff für Hunderte verwandter Proteine, hauptsächlich Gliadin und Glutenin.
Gliadin enthält Peptidsequenzen, die im Gastrointestinaltrakt nicht gespalten werden. Einige davon werden über den Dünndarm aufgenommen, durch die tTG deamidiert und in der Lamina propria, einer Gewebeschicht unterhalb der Dünndarmschleimhaut, bei Trägern bestimmter HLA-Allele von antigenpräsentierenden Zellen präsentiert. Auf diese Weise werden glutenspezifische T-Zellen stimuliert und es kommt bei erneuter Exposition zu einer entzündlichen Reaktion.
Die T-Zellen triggern darüber hinaus B-Zellen, die wiederum Antikörper gegen Gluten und tTG produzieren. Die Zöliakie ist somit weder eine Allergie noch eine Unverträglichkeit. Der pathogenetische Prozess wird durch Anti-tTG-Autoantikörper auf eine bislang noch nicht vollständig verstandene Weise zusätzlich verstärkt.
HLA-DQ2 und HLA-DQ8 sind die häufigsten HLA-Allele, die bei Zöliakie-Patienten gefunden werden: Etwa 90 Prozent der Betroffenen weisen HLA-DQ2 auf und 10 Prozent HLA-DQ8. Sie sind nicht selten: 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung sind Träger von HLA-DQ2 oder -DQ8. Die entsprechende Genetik ist also eine notwendige, aber keine allein ausreichende Voraussetzung für die Entstehung einer Zöliakie. Personen, die heterozygot für HLA-DQ2 oder -DQ8 sind, haben ein geringeres Risiko, eine Zöliakie zu entwickeln, als Personen mit zweifach vorhandenem Risikoallel. Das höchste Risiko haben Menschen mit Homozygotie für DQ2; von ihnen erkrankt etwa jeder Dritte.
Da die Immunreaktion bei Zöliakie in der Dünndarmschleimhaut stattfindet, zählen die gebildeten Anti-tTG-Antikörper zur Klasse der IgA. Sie werden bei Verdacht auf Zöliakie im Blutserum bestimmt. Der absolute Wert hängt stark vom Verfahren ab. Bei Betroffenen, die sich nicht glutenfrei ernähren, übersteigt die tTG-IgA-Konzentration den üblichen Wert um ein Vielfaches, sodass laut der S2k-Leitlinie »Zöliakie« bei Kindern und Jugendlichen von einer bestätigenden Biopsie abgesehen werden kann, wenn der tTG-IgA-Wert zehnfach oder noch stärker über den verfahrensabhängig festgelegten Grenzwert erhöht ist. Zur Sicherung der Diagnose werden dann in einer zweiten Blutprobe Endomysium-IgA-Antikörper (EMA-IgA) bestimmt, die ebenfalls bei Zöliakie erhöht sind.
Infolge der chronischen Entzündung bilden sich die Dünndarmzotten zurück und die Oberfläche des Dünndarms, über die normalerweise viele Nährstoffe aufgenommen werden, verkleinert sich. Dadurch kann es bei Zöliakie-Betroffenen, die keine glutenfreie Diät (GFD) einhalten, zu Nährstoffdefiziten kommen.
Eine Zöliakie kann sich in jedem Lebensalter manifestieren oder auch gänzlich ohne Symptome bleiben. Es gibt eine Vielzahl von möglichen Symptomen, weshalb die Erkrankung auch das »Chamäleon der Gastroenterologie« genannt wird (Tabelle). Die klassische Zöliakie mit massiven gastrointestinalen Beschwerden und einer Gedeihstörung bei Kleinkindern mache nur 10 bis 20 Prozent der Fälle aus. »Das wichtigste ist, an die Zöliakie als eine mögliche Ursache überhaupt zu denken«, heißt es in der Leitlinie.
Organ(e) | Symptome |
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Magen-Darm, Leber | chronischer Durchfall, chronische Verstopfung, Erbrechen, postprandiales Völlegefühl, Flatulenz, geblähtes Abdomen, chronische Bauchschmerzen, Reizdarmsyndrom, chronische Pankreatitis, Gastritis ohne Helicobacter pylori, Lactoseintoleranz, Fettlebererkrankung, unklare Transaminaseerhöhung, mikroskopische Kolitis |
Haut, Schleimhaut | Dermatitis herpetiformis Duhring, chronische papulopustulöse Hautveränderungen, chronische Urtikaria, Psoriasis, Alopezia areata, Vitiligo, chronisch-rezidivierende Aphten |
Knochen, Zähne | Zahnschmelzdefekte, Osteoporose, wiederholte Frakturen |
Muskeln, Gelenke | Gelenkbeschwerden, unklare Arthritis, Muskelschwäche/-schmerzen, Ataxie |
Geschlechtsorgane | verspätete Pubertät, frühe Menopause, unerfüllter Kinderwunsch, wiederholte Fehlgeburten |
Nährstoffe | Mangel an Eisen, Calcium, Zink, Kupfer, Eiweiß, Albumin, Vitamin B6, Vitamin B12, Folsäure |
Herz, Lunge, Niere | Perikarderguss, Myokarditis, Kardiomyopathie, pulmonale Hämosiderose, IgA-Nephropathie |
Sonstiges | Anämie, chronische Erschöpfung/Müdigkeit, unklarer Gewichtsverlust, Kleinwuchs/verminderte Wachstumsgeschwindigkeit, Nachtblindheit, affektive Störungen, Epilepsie, Depression, Migräne, ADHS, periphere Neuropathie, Autismus, Essstörungen, lymphoproliferative Erkrankungen, unzureichende Impfantwort |
Es gebe weder ein Leitsymptom noch ein klinisches Bild, das per se eine Zöliakie ausschließe, auch nicht Übergewicht oder Adipositas. Zöliakie werde häufig mit Untergewicht oder Gewichtsabnahme assoziiert; systematische Studien hätten jedoch gezeigt, dass bei Diagnosestellung 28 Prozent der Patienten übergewichtig und 11 Prozent sogar adipös seien.
Viele Nahrungsmittel oder ihre Bestandteile enthalten Gluten. Pro Tag nimmt man normalerweise etwa 10 bis 20 g Gluten zu sich. / © Adobe Stock/Kryuchka Yaroslav
Derzeit gibt es kein spezifisches Medikament zur Behandlung von Patienten mit Zöliakie. Damit die chronische Entzündung im Dünndarm abklingt, müssen Betroffene Gluten meiden – und zwar strikt sowie lebenslang. Toleriert werde laut Leitlinie lediglich eine Menge von weniger als 10 mg Gluten pro Tag. Zum Vergleich: Über die normale Nahrung nimmt man pro Tag etwa 10 bis 20 g Gluten zu sich, also das 1000- bis 2000-Fache. 10 mg Gluten entsprechen etwa zehn Brotkrümeln oder einem Drittel eines Brotcroutons.
Beginnt der Patient eine GFD, wird durch den Wegfall des Triggers die Entzündungskaskade durchbrochen. Zöliakie-spezifische Autoantikörper werden nicht mehr gebildet und die Dünndarmschleimhaut heilt aus. Bei einer starken Schädigung der Schleimhaut kann der Heilungsprozess allerdings länger als zwei Jahre dauern. Der Wert der tTG-IgA sollte nach sechs Monaten um mindestens 50 Prozent abgefallen sein. Befolgt der Patient die GFD konsequent, sinkt er mit der Zeit unter den Grenzwert.
Sich glutenfrei zu ernähren, ist in den vergangenen Jahren auch bei vielen Menschen ohne gesicherte Zöliakie-Diagnose in Mode gekommen. Das kann problematisch sein, weil bei Personen, die sich »freiwillig« einer GFD unterziehen, eine Zöliakie oft nicht mehr sicher diagnostiziert werden kann. Sie müssten vor der Blutentnahme zur Bestimmung des tTG-IgA-Titers drei Monate lang eine normale Kost zu sich nehmen, was viele Betroffene ablehnen. Angehörige von Heilberufen sollten daher allen Personen, die eine GFD für sich in Erwägung ziehen, raten, vor deren Beginn eine Zöliakie ausschließen zu lassen, so die Leitlinie.
Was kann ich jetzt überhaupt noch essen? Viele Betroffene sind von der Diagnose Zöliakie stark verunsichert. Wie eine abwechslungsreiche glutenfreie Kost aussehen kann, die dem Betroffenen schmeckt, sollte dieser möglichst bald nach der Diagnose mit einer ernährungstherapeutischen Fachkraft besprechen. Auf der Website der Deutschen Zöliakie Gesellschaft (www.dzg-online.de) finden sich zudem viele Tipps und die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen.
Nicht erlaubt sind Weizen (Hart- und Weichweizen, Khorasan-Weizen/Kamut®), Roggen, Gerste, Dinkel, Grünkern, Triticale (Kreuzung aus Hartweizen und Roggen), Tritordeum (Kreuzung aus Hartweizen und Wildgerste), Emmer, Urkorn und Einkorn. Hafer ist ein Spezialfall: Er ist häufig mit Gluten kontaminiert, sodass handelsübliche Haferprodukte laut Leitlinie nicht verzehrt werden sollen. Nicht kontaminierte glutenfreie Getreide sind erlaubt. Neben speziell gekennzeichnetem Hafer sind das Hirse/Teff, Mais und Reis/Wildreis.
Von Natur aus glutenfrei sind zudem unter anderem Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Soja und Nüsse sowie Fleisch, Fisch, Milch, Eier, Obst und Gemüse. Auch hier besteht allerdings bei verarbeiteten Lebensmitteln häufig das Risiko der Kontamination. Als glutenfrei gekennzeichnete Lebensmittel dürfen maximal 20 mg/kg Gluten enthalten.
Enthält ein Lebensmittel maximal 20 mg Gluten pro kg, darf es als glutenfrei gekennzeichnet werden. / © Imago Images/Photothek