US-Händler wittern großes Geschäft |
01.02.1999 00:00 Uhr |
JAHR-2000-PROBLEM
Seit Jahren warnen Experten vor den schlimmen Folgen des digitalen Entwicklungsfehlers. Um teuren Speicherplatz zu sparen, hatten Programmierer in der Frühzeit der Computer die Jahreszahl nur mit zwei Ziffern versehen - und Maschinen, die mit der fehlerhaften Software ausgerüstet sind, könnten das Jahr 2000 mit dem Jahr 1900 verwechseln.
Wenn Computer den ersten Tag im Jahr 2000 für den 1. Januar 1900 halten, könnten Rechner in unzähligen Lebensbereichen durchdrehen und beispielsweise Verfallsdaten von Medikamenten oder Wartungsintervalle von Maschinen falsch berechnen. Flugzeuge könnten vom Himmel fallen, sagen besonders pessimistische Experten, die vor einer Reise am Neujahrstag warnen. Aber auch, wer brav zu Hause bleibt, wird möglicherweise nicht verschont. Banken, Supermärkte oder Tankstellen könnten tage-, vielleicht sogar wochenlang schließen.
Für diesen Fall bietet das Unternehmen "Peace of Mind Essentials" aus Montana im Internet eine große Sammlung von Spezialvorräten an - für eine Situation in der "Geld keine Nahrung mehr kaufen kann", so die Eigenwerbung.
Es hätten schon Tausende von Kunden angerufen, um sich nach dem Angebot zu erkundigen, sagt Besitzerin Mary Martel. Ihre Aufgabe sei es, ihre Kunden "zu beraten, und sie nicht zu erschrecken". Aber gleichzeitig betont die geschäftstüchtige Online-Händlerin die "höchste Dringlichkeit" einer möglichst baldigen Bestellung.
Schon jetzt müssen ihre Kunden über zwei Monate lang auf die Lieferung von Waren wie Trockenobst, Camping-Öfen und Erste-Hilfe-Sets warten. Diese Notvorräte gehören zu den Verkaufsschlagern von "Peace of Mind Essentials". Offenbar hat sich spätestens seit dem gerade vergangenen Jahreswechsel unter vielen verängstigten US-Bürgern die Meinung durchgesetzt, daß in einem Jahr große Versorgungsengpässe drohen.
Wie verbreitet diese Angst ist, bewies nicht zuletzt die Schauspielerin Gillian Anderson, die in der populären Fernsehserie "Akte X" eine FBI-Agentin bei der Erforschung übersinnlicher Phänomene spielt. Beim Talk-Star David Letterman sprach Anderson vor einem TV-Millionenpublikum über ihre eigene Angst vor dem Chaos der Jahrtausendwende, sie erwarte leergefegte Regale in den Supermärkten.
Gerade solche Warnungen von Prominenten verstärken dann noch einmal die immer größer werdende Hysterie, und das freut auch Mary Martel. Eines ihrer bestverkauften Produkte sind genetisch besonders reine Pflanzensamen. Sie sind vor allem bei jenen Amerikanern beliebt, die sich in ländlichen US-Regionen vom Rest des Landes abgesetzt haben. In diesen Kreisen, zu denen viele religiöse Fanatiker und Angehörige der Milizbewegung gehören, ist die Angst vor einem weltweiten Jahrtausendwende-Chaos besonders groß.
Davon profitiert auch die Saatgut-Firma "Local Favorites" in Spokane im entlegenen Osten des Bundesstaates Washington. Dort rufen neuerdings regelmäßig Kunden an, um so viele der bevorzugten Pflanz-Samen wie möglich lagern zu können. "Wenn uns die Leute auf das Thema Y2K ansprechen, dann klingen sie ziemlich panisch," sagt Besitzer Chris Blake. Er erwartet ein hervorragendes Geschäftsjahr.
Nicht nur in ländlichen Regionen, auch in Großstädten stellen sich Händler nun zunehmend auf Kundschaft mit ungewöhnlichen Wünschen zur Vorbereitung auf die Jahrtausendwende ein. Der Wanderartikel-Händler REI in Seattle bietet neuerdings neben seinem üblichen Sortiment für das Leben ohne Elektrizität auch ein Sonderpaket mit gefriergetrockneter Nahrung an. Mit diesen Vorräten zum Preis von 500 Dollar pro Paket soll eine Person über einen Monat lang überleben können.
Die Ladenkette Costco begann schon jetzt damit, Artikel wie Stromgeneratoren, Taschenlampen und Wassertanks für jene Kunden bereitzustellen, die sich auf einen totalen Zusammenbruch der Strom- und Trinkwasserversorgung am 1. Januar 2000 einstellen wollen. US-Tageszeitungen wie die "Seattle Times" sagen allen US-Händlern, die die Bedürfnisse der Y2K-Paniker befriedigen können, einen Boom voraus. Das schließt natürlich auch Waffenverkäufer mit ein.
Das Magazin "Time" fand heraus, daß fast die Hälfte aller Amerikaner einen Notvorrat an Bargeld von ihren Konten abheben wollen, bevor sie ihre nächste Silvester-Feier beginnen. Und ein Drittel aller Befragten will Wasser und Nahrung horten, um sich für den Fall der Fälle vorzubereiten.
In diesem Klima der Angst haben jetzt auch Bücher Hochkonjunktur, die Antworten auf Y2K-Fragen bieten. Der vom alternativen Magazin "Utne Reader" verlegte Ratgeber "Y2K Citizen's Action Guide" geht sogar auf die "psychologischen Herausforderungen" des Phänomens ein.
Wut, Depression und Panik seien völlig verständliche Reaktionen. Aber wer sich
"mit seiner Angst, seinen Vorräten und seinem Gewehr in den Hügeln versteckt",
wähle die falsche Strategie, warnt der Ratgeber. Er empfiehlt enge Zusammenarbeit mit den
Nachbarn.
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