Christiansen klärt Landespolitik über Reform-Risiken auf |
Cornelia Dölger |
02.07.2024 16:26 Uhr |
Schleswig-Holsteins Kammerpräsident Kai Christiansen warnt vor den Folgen der Apothekenreform. / Foto: PZ/Daniela Hüttemann
»Mit diesem Gesetz wird eine Kommerzialisierung der Versorgung betrieben, die das Bundesgesundheitsministerium in anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung nach negativen Erfahrungen ausdrücklich bekämpfen will«. Durch das Gesetz entstünden »tatsächlich Gefahren« für die Patienten.
Christiansen listet in dem Brief »unvermeidbare Konsequenzen« auf, die es unbedingt zu verhindern gelte: Pseudo-Apotheken ohne Apothekerinnen und Apotheker schadeten den Patientinnen und Patienten, so Christiansen. Die geplanten »Apotheken ohne Apotheker« gefährdeten die Patienten »massiv«, weil der eigentliche Beratungsbedarf von Patientinnen und Patienten in vielen Fällen nicht erkannt werden könne; daran ändere auch die Möglichkeit einer digitalen Kontaktaufnahme per Video nichts. »Ohne dauerhafte Präsenz einer Apothekerin oder eines Apothekers sind deren Kontrollfunktionen und Beratungsleistungen in der Praxis nicht mehr realisierbar.«
Dass Approbierte nur noch stundenweise in der Apotheke anwesend sein müssten, habe zudem Leistungskürzungen zur Folge. Apothekenleistungen wie die BtM-Abgabe, das Erkennen von Einnahmeproblemen, Medikationsanalysen, die Herstellung von Rezepturen oder Impfungen fallen demnach in den Zeiten, in denen keine Apothekerin oder kein Apotheker anwesend ist, entweder komplett weg oder sind nur noch nach Terminvereinbarung zu erhalten.
Verschärft würde die Lage durch die zu erwartenden Kündigungen von Approbierten als Reaktion auf das Gesetz – hier, so Christiansen, sei davon auszugehen, dass die Apothekenimpfungen wieder zurückgehen, ebenso wie die – politisch gewollten – pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL).
Die Daseinsvorsorge für die Bevölkerung vor Ort werde eingeschränkt, so die Kritik weiter. Christiansen zählt die Angebote und Leistungen auf, die die Apotheken zur Gesundheitsversorgung leisten und mit denen sie die Arztpraxen und Sozialsysteme entlasten. Durch ihre Zugänglichkeit, ihre niedrigschwellige Beratung, ihre dauerhafte Verfügbarkeit würden sie zu einer »wesentliche Säule der sozialen Infrastruktur«. Die Pläne des BMG erschwerten diesen wichtigen Zugang erheblich, Versorgungslücken drohten.
Ferner führten die Pläne dazu, dass der freie Heilberuf des Apothekers »zum bloßen Gewerbetreibenden« degradiert werde und den Patientinnen und Patienten kompetente und unabhängige Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner entzogen würden. Der Kosten- und Wettbewerbsdruck habe noch größeren Fachkräftemangel zur Folge; besagte Kündigungswellen seien zu befürchten, die die Versorgung weiter einschränkten.
Die Reform schaffe zudem keine neuen Filialapotheken, sondern vernichte bestehende Arbeitsplätze. Das Modell der »Apotheken ohne Apotheker« eröffne Marktmechanismen, die das BMG offenbar ignoriere. So vernichteten die Pläne eine Vielzahl an hoch qualifizierten Arbeitsplätzen, weil die Inhaberinnen und Inhaber sich dem Wettbewerbsdruck stellen und Apothekerinnen und Apotheker durch anderes Personal ersetzen müssten. In Gefahr seien 40.000 Arbeitsplätze von angestellten Approbierten – das BMG missachte den Wert dieser Berufsgruppe.
Die geplante Reform sei zudem keine schrittweise Fortentwicklung des Systems der Arzneimittelversorgung, sondern ein radikaler Systemwechsel mit unumkehrbaren negativen Folgen. Lauterbachs Pläne öffneten drohenden »systembrechenden und die Versorgung bagatellisierenden Regelungen« Tür und Tor, so die Kritik. Bis zur Aufhebung des Fremdbesitzverbots sei es dann nur noch ein kleiner Schritt: »Große, international agierende Konzerne werden die Versorgung zukünftig steuern«, schildert Christiansen das Szenario.
Die mittelständisch geprägte Versorgungsstruktur mit ihren 160.000 Arbeitsplätzen ginge unwiederbringlich verloren, die Folgen seien unumkehrbar. Zu was die Liberalisierung des Apothekenwesens führen kann, legt Christiansen am Beispiel Schweden dar, wo sich neu zugelassene Apothekenkonzerne fast ausschließlich in urbanen Gebieten niedergelassen hätten; die Versorgung auf dem Land profitierte davon nicht. Auch Dänemark, Großbritannien und die USA seien Negativbeispiele.
Statt einer Eins-zu-Eins-Umverteilung des Honorars benötigten die Apotheken eine »nachhaltige, finanzielle Stabilisierung des gesamten Systems«, fordert Christiansen. Die Umverteilung des Honorars – schrittweise Erhöhung des Fixums bei gleichzeitiger schrittweiser Senkung des variablen Anteils – werde zwar explizit als Stärkung vor allem ländlich gelegener Apotheken dargestellt, allerdings stünden alle Apotheken unter einem enormen wirtschaftlichen Druck.
Stadtapotheken waren demnach sogar besonders betroffen von der Schließungswelle der vergangenen Jahre. Die Apotheken befänden sich auf einem Honorarniveau von 2004, gleichzeitig seien die Kosten seitdem um mehr als 60 Prozent gestiegen; Schließungen und immer weniger Neugründungen seien die Folge.
Zu den Reformplänen gebe es gute Alternativen. Das BMG räume es in dem Entwurf selbst ein: Die flächendeckende Arzneimittelversorgung ist aktuell gesichert. Damit das so bleibe, müsse das System »innerlich gestärkt« werden. Apotheken müssten stärker in die Gesundheitsversorgung eingebunden werden, gerade angesichts des demographischen Wandels.
Medikationsfehler, Wechselwirkungen mit anderen Wirkstoffen, unerwartete Nebenwirkungen und somit Klinikeinweisungen und Arztbesuche könnten reduziert werden, wenn Apotheken stärker eingebunden würden. Kosten in Milliardenhöhe könnten gespart werden.
Es brauche zudem mehr Entscheidungskompetenzen der Apothekerinnen und Apotheker, etwa beim Lieferengpassmanagement, beim interprofessionellen Medikationsmanagement, bei Telepharmazie aus der Apotheke zum Patienten, assistierter Telemedizin, bei den pharmazeutischen und präventiven Dienstleistungen. Auch gehe es um mehr Primärversorgung in der Apotheke.
»Dieses Versorgungssystem sichert die Versorgung der Menschen mit Arzneimitteln patientennah und ist bisher auf Grund der kleingliedrigen Netzstruktur äußerst resilient«, resümiert Christiansen. Es gelte, das System zu erhalten.