Chefs sollten mehr für Fische schwärmen |
Jennifer Evans |
31.07.2023 07:00 Uhr |
In einer Gruppe orientieren sich Fische nur an ihren lokalen Nachbarn. Das gilt auch für Menschen. Schwarmgesetze aus dem Tierreich zu kennen, kann für ganz unterschiedliche Lebensbereiche interessant sein. / Foto: Adobe Stock/IKER
PZ: Wie tragen Sie mit Erkenntnissen aus der Fischökologie dazu bei, Menschen besser zu verstehen?
Krause: Grundsätzlich beobachte ich erst einmal die Natur und gewinne durch mathematische Modellierungen Einsichten in die Schwarmintelligenz von Fischen. Lassen sich dort gewisse Prinzipien erkennen, stellt sich die Frage, wo diese womöglich Anwendung finden können. Übrigens funktioniert das auch umgekehrt. Untersucht man das Schwarmverhalten von Menschen und modelliert es, lassen sich daraus ebenfalls Erkenntnisse für Tiere ableiten. Das Gruppenleben wurde in der Evolution nämlich genau deshalb begünstigt, weil Individuen auf solche kollektiven Entscheidungen zurückgreifen können.
PZ: Welche Schwarmgesetze gibt es denn?
Krause: Anhand einfacher Interaktionsprinzipen zwischen Individuen lässt sich gut soziales Verhalten von Gruppen simulieren. Es gilt: Kommen sich zwei zu dicht, stoßen sie sich ab und suchen das Weite. Bewegen sie sich in einem mittleren Abstand zueinander, richten sie sich zueinander aus. Und ist die Entfernung zwischen ihnen extrem groß, fühlen sie sich zueinander hingezogen. Außerdem achtet jedes Individuum immer nur auf seine nächsten Nachbarn, von denen es dann Informationen sammelt. So entsteht eine soziale Selbstorganisation. Für den Schwarm bedeutet das: Er bewegt sich geschlossen in eine Richtung. Zum Beispiel vom Räuber weg und zur Nahrung hin. Dabei existiert kein Anführer. Ein Schwarm funktioniert also auch dann, wenn einige Fische auf ihrer Reise sterben oder gefressen werden.
Ein weiteres Phänomen: Es braucht nur fünf bis zehn Prozent Schwarmvertreter, um eine Aktion zu initiieren, der andere dann folgen. Grundsätzlich kann jeder zum Anführer werden, wenn er über Zusatzinformationen verfügt. Das bedeutet, nur wenige Individuen reichen aus, um einen Veränderungsprozess anzustoßen. Uns interessierte, ob sich dieses Verhalten auch bei anderen Lebewesen beobachten lässt. Einige Konzerne kamen auf mich zu, weil sie diese wissenschaftlichen Erkenntnisse für den Alltag in der Unternehmensleitung spannend fanden.
PZ: Mit welchen Unternehmen haben Sie sich ausgetauscht? Und was kann ein Chef von Fischen lernen?
Jens Krause ist Professor für Fischökologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit forscht er am kollektiven Regelbruch. / Foto: privat
Krause: Ich habe zum Beispiel einige Sparkassen, Continental, Bosch, Porsche und Audi besucht. Generell ist den Vertretern von Führungspositionen klar, dass heute niemand mehr alles lesen, beachten und wissen kann. Entscheidungen müssen sich daher auf mehrere Schultern verteilen. Dabei kann man aber auch gezielt auf das kollektive Wissen seiner Mitarbeiter zugreifen und ihren Input nutzen. Allerdings sollte man bei solchen Prozessen gewisse Prinzipen beachten. »Der Schwarm« sollte das Problem beurteilen können, etwaiges Wunschdenken sollte keine Rolle spielen und keinerlei Bestrebungen vorhanden sein, die Entscheidung zu manipulieren. Je diverser zudem die Zusammensetzung der Mitarbeiter ist und je mehr sie über unabhängige Informationen zu der Thematik verfügen, desto besser. Das sind vier wesentliche Voraussetzungen dafür, dass solche kollektiven Entscheidungen eine Chance haben, schwarmintelligent zu sein. Zwar existiert so noch keine Garantie, es steigert aber Wahrscheinlichkeit.
PZ: Können Schwarmentscheidungen besser sein als die von einzelnen Menschen?
Krause: Nicht grundsätzlich. Die Wahrscheinlichkeit für eine gute Entscheidung steigt aber, wenn die genannten Kriterien erfüllt sind. Man darf nicht vergessen: Es existiert auch Schwarmdummheit.
PZ: Wie definiert sich Schwarmintelligenz eigentlich?
Krause: Eine Gruppe ist dann schwarmintelligent, wenn zwei oder mehr Individuen unabhängig voneinander Informationen aus der Umwelt aufnehmen, diese Information durch soziale Interaktion verarbeiten und daraus eine Lösung für ein kognitives Problem entsteht, das für einen Einzelnen so nicht anwendbar wäre. Zentral ist der Aspekt der unabhängigen Informationen.
PZ: Wie lässt sich das nun auf Unternehmen übertragen? Und was wurde von Ihren Empfehlungen bereits umgesetzt?
Krause: Diversität entsteht zum Beispiel, wenn unterschiedliche Abteilungen aus ihrem Alltag verschiedene Blickwinkel auf ein Problem einbringen. Oder auch wenn der Background der Mitarbeiter sehr verschieden ist. Wie bei den Fischen können sich auch Arbeitsgruppen ohne Chef selbst gut steuern. Denn Fehler einzelner Individuen minimiert das Kollektiv. Generell führen mehr Freiräume zu kreativen Problemlösungen. Von den Tieren lernt man auch, dass flache Hierarchien, gleichberechtigte Mitsprache sowie viel Vernetzung und eine große Informationsstreuung von Vorteil sind.
Einige Konzerne können sich meines Wissens nach inzwischen vorstellen, etwa Ergebnisse aus Mitarbeiterbefragungen, also Schwarmintelligenz, durchaus als eine Empfehlung für ihre Entscheidung zu betrachten. So etwas kann natürlich niemals die Verantwortung ersetzen, aber als ein Werkzeug für den Führungsstil dienen. Ähnlich verhält es sich ja mit der Künstlichen Intelligenz in der Medizin. Ärzte können sich zwar zunehmend von KI unterstützen lassen, haben aber weiterhin die Entscheidungshoheit.
PZ: Sie haben vor diesem Hintergrund auch medizinische Entscheidungsprozesse unter die Lupe genommen…
Krause: Ja, wir haben mehrere Ärzte-Diagnosen miteinander verknüpft und geschaut, ob eine Gruppe an Medizinern eine bessere Entscheidung fällt als der beste Arzt. Dabei kamen große Diagnose-Datensätze zu Brustkrebs und Hautkrebs zum Einsatz. Parallel kommen zwar immer neue KI-Systeme für die Diagnose auf den Markt. Doch deren Einführung spielte für uns eine untergeordnete Rolle, denn wir verrechnen Diagnosen miteinander, unabhängig davon, ob sie von Ärzten oder neuronalen Netzwerken stammen. Grundsätzlich geht es bei der Verrechnung mehrerer Diagnosen um einen Optimierungsprozess. Übrigens kamen wir auf eine vier- bis fünfprozentige Verbesserung. Die Ergebnisse sind ermutigend, aber man muss sich fragen, ob es nicht zu teuer ist, immer mehr Diagnosen zu erstellen. Das ist meiner Ansicht nach eher eine Frage danach, was sich die Gesellschaft leisten will und kann.
PZ: Woran forschen Sie aktuell?
Krause: Derzeit interessiert mich der kollektive Regelbruch. Wann Menschen beispielsweise in Demonstrationen oder anderen Situationen gewalttätig werden, was ihr Verhalten auslöst und wie man damit umgehen kann. Ich denke da an Ereignisse wie die Stürmung des Kapitols, die Krawalle am Reichstag oder die Masken-Verweigerer in der Pandemie. Wann beginnen Menschen unter sozialen Einfluss zu kopieren und wann entsteht eine Kettenreaktion? Die Frage ist, ob unsere Vorhersagen auch beim Thema Gewalt greifen? Lässt sich ein Individuum in einer solchen Gruppe ebenfalls durch die nächsten Nachbarn im Raum beeinflussen und genügen auch hier fünf bis zehn Prozent Initiatoren, um eine Verhaltensänderung herbeizuführen? Wir arbeiten dazu mit Psychologen und Soziologen zusammen. Ziel ist es, am Ende herauszufinden, was präventiv möglich ist, wie die Polizei deeskalierend eingreifen kann oder wie sich Evakuationen von Gebäuden oder Stadien optimieren lassen.