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Erste Bilanz

Cannabis raus aus der »Schmuddelecke«

Heute liegt die Streichung von Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz 100 Tage zurück. Was hat sich dadurch für Apotheken, Ärzte und Patienten geändert? Eine erste Bilanz zieht Christiane Neubaur, Apothekerin und Geschäftsführerin des Verbands der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA).
Anne Orth
10.07.2024  16:00 Uhr

PZ: Frau Neubaur, welches Fazit ziehen Sie nach rund 100 Tagen Teillegalisierung?

Neubaur: Die Teillegalisierung hat mehr Apothekeninhaberinnen und -inhaber motiviert, sich an der Versorgung mit medizinischem Cannabis zu beteiligen. Das große Interesse freut mich, das ist sehr positiv. Wir brauchen auch mehr öffentliche Apotheken, da die Patienten auf verlässliche Ansprechpartner vor Ort angewiesen sind, die sie begleiten. Das sollten wir nicht nur den Online-Apotheken überlassen.

PZ: Mittlerweile verordnen Ärzte medizinisches Cannabis elektronisch. Wie gut klappt das?

Neubaur: Das Einlösen der E-Rezepte, mit denen Ärzte seit April medizinisches Cannabis verordnen, hat anfangs nicht gut geklappt. Die neuen Regelungen traten sehr plötzlich in Kraft, daher waren die Warenwirtschaftssysteme anfangs nicht darauf eingestellt. Aber mittlerweile hat sich alles »zurechtgeruckelt«. Inzwischen haben Apotheken beim Abruf der E-Rezepte keine Probleme mehr.

PZ: Ist die Abgabe von medizinischem Cannabis durch die Teillegalisierung einfacher geworden?

Neubaur: Die Lagerhaltung ist einfacher geworden. Da Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft ist, müssen Apotheken es nicht mehr im Tresor aufbewahren. Auch die Dokumentationspflicht, die für Betäubungsmittel gilt, ist weggefallen. Das bringt eine gewisse Zeitersparnis. Aber ansonsten ist alles gleichgeblieben. Medizinisches Cannabis bleibt ein Rezepturarzneimittel. Apothekerinnen und Apotheker müssen nach wie vor die Identitäts- und Plausibilitätsprüfung durchführen. Eine qualitative Analyse des THC- und CBD-Gehalts ist hierfür notwendig, etwa über validierte Schnelltests. Darüber hinaus untersuchen Apotheker Blüten unter dem Mikroskop. Stellen sie Schimmel fest, was bei Cannabisblüten durchaus vorkommen kann, sollten sie dies dem Hersteller melden und die Blüten gegebenenfalls zurücksenden.

PZ: Was hat sich für Apotheken noch verändert?

Neubaur: Der Anteil der Privatrezepte, die Apotheken entgegennehmen, hat stark zugenommen. Mittlerweile machen sie 80 Prozent der Verordnungen aus, Rx-Rezepte lediglich 20 Prozent. Vor dem 1. April bestand etwa die Hälfte der Verordnungen aus Privatrezepten, die anderen wurden zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet.

PZ: Woran liegt das?

Neubaur: Die Rezepte, die Apotheken entgegennehmen, kommen hauptsächlich von Online-Ärzten. Für sie ist die Verordnung von medizinischem Cannabis durch das Cannabis-Gesetz einfacher geworden. Da die Online-Ärzte meist keine Vertragsärzte sind, dürfen sie ausschließlich privat verordnen. Ein weiterer Grund für die Zunahme der Privatrezepte ist, dass auch Vertragsärzte sich die Verordnung von medizinischem Cannabis zunächst von den Kassen genehmigen lassen müssen. Und die Kassen lehnen die Anträge seit April zunehmend ab. Dann haben die Patienten die Möglichkeit, sich auch bei niedergelassenen Ärzten das medizinische Cannabis auf einem Privatrezept verordnen zu lassen. Allerdings können es sich manche Patienten nicht leisten, ihre Medikation dauerhaft selbst zu bezahlen.

Wozu führt das?

Neubaur: Die Patientinnen und Patienten haben zum Teil lange Leidenswege hinter sich. Manche warten zehn bis zwölf Jahre, bevor ein Arzt eine Therapie mit medizinischem Cannabis vorschlägt. Die Leitlinientherapien mussten erst ausgeschöpft sein. Dies muss sich ändern, denn für Menschen, die beispielsweise unter starken chronischen Schmerzen oder Spastiken leiden, ist das fatal.

PZ: Steigt durch die Zunahme der Verordnungen über Telemedizin-Plattformen das Missbrauchs-Risiko?

Neubaur: Für Online-Ärztinnen und -Ärzte gelten die gleichen Anforderungen und Vorschriften wie für alle Ärzte. Sie müssen eine Anamnese machen und sollten vor der Erstverschreibung den Patienten gesehen haben. Die Gesetze sind also vorhanden, sie sollten nur auch eingehalten werden. Als Apotheker müssen wir davon ausgehen, dass Ärzte ethisch korrekt handeln. Bei Verdacht auf Missbrauch sollten wir auf jeden Fall Rücksprache mit dem Arzt halten, so wie bei jedem anderen Arzneimittelmissbrauch auch. Wenn jemand Apotheken-Hopping betreibt, ist es für uns allerdings schwierig, Missbrauch zu erkennen und dagegen vorzugehen.

PZ: Ist die Nachfrage der Patientinnen und Patienten nach medizinischem Cannabis gestiegen?

Neubaur: Medizinisches Cannabis ist durch die Teillegalisierung bekannter geworden. Dadurch hat auch die Nachfrage der Patientinnen und Patienten zugenommen.

PZ: Sind auch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte eher bereit, medizinisches Cannabis zu verordnen, seit es legal ist?

Neubaur: Die Ärzteschaft ist bei diesem Thema gespalten. Manche niedergelassenen Ärzte lehnen die Verordnung von medizinischem Cannabis generell ab. Für Mediziner, die bereits interessiert waren, ist der Zugang hingegen leichter geworden. Sie müssen kein BtM-Rezept mehr ausstellen, und damit ist auch die BtM-Dokumentationspflicht weggefallen. Allerdings ist die Antragstellung bei den Kassen sehr aufwendig. Zudem ist der Beratungs- und Therapieaufwand für Ärzte bei medizinischem Cannabis höher als bei anderen Arzneimitteln wie beispielsweise Ibuprofen. Es gehört viel Wissen und Erfahrung dazu.

Hat die Teillegalisierung dazu beigetragen, medizinisches Cannabis ein Stück weit aus der »Tabuzone« zu holen?

Neubaur: Das Thema ist dadurch in der Öffentlichkeit viel präsenter geworden. Cannabis wird seitdem mehr auch als Medizin gesehen und nicht nur als Genussmittel. Es ist wichtig, dass es aus der Schmuddelecke herauskommt. Es gab und gibt Stigmatisierung bei diesem Thema. Die Patientinnen und Patienten haben sich oft nicht getraut, sich zu outen, weil sie nicht als »Kiffer« bezeichnet werden wollten. Es ist wichtig, dass Cannabis als gute Therapieoption anerkannt wird. Cannabis kommt schließlich aus der Medizin.

PZ: Was ist das Besondere an medizinischem Cannabis?

Neubaur: Medizinisches Cannabis hat ein sehr breites Wirkspektrum – das ist das Faszinierende daran. Ein Patient mit chronischen Schmerzen schläft oft auch schlecht und ist häufig depressiv und zieht sich aus dem sozialen Leben zurück. Wenn er medizinisches Cannabis bekommt, wird er gegen die chronischen Schmerzen abgeschirmt, die depressiven Verstimmungen bessern sich und der Patient schläft auch besser. Bei der Behandlung mit medizinischem Cannabis können Patienten andere Medikamente oft absetzen oder niedriger dosieren. Wenn sie gut eingestellt sind, ist für sie das Leben damit wieder lebenswert.

PZ: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Neubaur: Es sollte noch mehr seriöse und gute Aufklärung erfolgen, damit wir noch mehr niedergelassene Ärztinnen und Ärzte motivieren können, medizinisches Cannabis zu verordnen. Die Ärztekammern könnten beispielsweise mehr Fortbildungen und Zusatzausbildungen anbieten. Außerdem warten wir auf den Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses, mit dem Facharztgruppen festgelegt werden sollen, die Cannabis ohne Genehmigungsvorbehalt verordnen dürfen. Das würde für diese Ärzte die Verordnung sehr erleichtern, da die Kassen dies dann nicht mehr ablehnen dürfen.

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