Bürokratieabbau, Primärarztsystem und kein Cannabis-Verbot |
Lukas Brockfeld |
09.04.2025 16:30 Uhr |
Die Spitzen von Union und SPD haben ihren Koalitionsvertrag präsentiert. / © IMAGO/Frank Ossenbrink
Die Verhandler von Union und SPD haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. In dem 146 Seiten starken Papier finden sich nicht nur eine Erhöhung des Apothekenfixums und eine Aufhebung des Skonto-Verbots, sondern auch zahlreiche andere Maßnahmen, die die Gesundheitsversorgung in Deutschland betreffen.
Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) verzeichnete im vergangenen Jahr ein Defizit von mehr als 6 Milliarden Euro, außerdem mussten fast alle Krankenkassen ihre Zusatzbeiträge zum Jahreswechsel deutlich erhöhen. Um die GKV-Finanzen zu stabilisieren, plant die neue Koalition die Einrichtung einer Kommission unter Beteiligung von Experten und Sozialpartnern. Die Kommission soll die gesundheitspolitischen Maßnahmen des Koalitionsvertrags überwachen und bis zum Frühjahr 2027 weitere Maßnahmen vorschlagen.
Der Koalitionsvertrag enthält keine konkreten Vorschläge zur Entlastung der GKV-Finanzen. Stattdessen heißt es nur, dass man die die Einnahmen der GKV durch ein höheres Beschäftigungsniveau vergrößern und die Kosten auf der Ausgabenseite reduzieren möchte. Einige andere Vorhaben dürften die GKV ebenfalls entlasten. So sollen die Mittel für den Krankenhaustransformationsfonds jetzt aus dem Sondervermögen Infrastruktur stammen. So sparen die Krankenkassen 2,5 Milliarden Euro im Jahr.
Um die Versorgungssicherheit mit Arzneimitteln zu verbessern, plant die wahrscheinliche künftige Bundesregierung die Rückverlagerung von Produktionsstandorten für kritische Arzneimittel und Medizinprodukte nach Deutschland und Europa. Die Pharmaindustrie soll allgemein gestärkt werden. Dafür wird unter anderem eine Weiterentwicklung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (AMNOG) geplant, insbesondere mit Blick auf die umstrittenen »Leitplanken«.
Deutschland ist bei der Produktion von Arzneimitteln stark von China abhängig. Die Bundesregierung wäre im Ernstfall erpressbar. Union und SPD wollen ihre China-Strategie daher nach dem Prinzip des »De-Risking« überarbeiten. Eine neue Expertenkommission soll in einem jährlichen Bericht Risiken, Abhängigkeiten und Vulnerabilitäten in den wirtschaftlichen Beziehungen analysieren und entsprechende Maßnahmen vorschlagen.
Um die Wartezeiten auf Facharzt-Termine zu verringern, planen Union und SPD ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte. Ausnahmen sollen in der Augenheilkunde und der Gynäkologie gelten. Primärärzte oder die von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) betriebene Rufnummer 116 117 sollen den medizinisch notwendigen Bedarf für einen Facharzttermin feststellen und den dafür notwendigen Zeitkorridor mit Termingarantie festlegen. Um die Versorgung in unterversorgten Gebieten zu verbessern, will die Koalition die Entbudgetierung von Fachärzten in den betroffenen Regionen prüfen.
Aufbauend auf der Krankenhausreform der Ampel-Koalition will die neue GroKo eine qualitative, bedarfsgerechte und praxistaugliche Krankenhauslandschaft entwickeln und die gesetzliche Grundlage dafür bis zum Sommer 2025 schaffen. Zur Sicherstellung der Grund- und Notfallversorgung sollen den Ländern mehr Ausnahmen und erweiterte Kooperationsmöglichkeiten gewährt werden. Der in der Reform vorgesehen Transformationsfonds für Krankenhäuser soll aus dem Sondervermögen Infrastruktur und nicht aus den Mitteln der GKV finanziert werden.
Die Koalition plant eine große Pflegereform, die die nachhaltige Finanzierung und Finanzierbarkeit der Pflegeversicherung sichern sowie eine Stärkung der ambulanten und häuslichen Pflege gewährleisten soll. Die Grundlagen der Reform soll von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Ministerebene unter Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände erarbeitet werden. Kurzfristig will die Koalition ein Gesetz zur Pflegekompetenz, Pflegeassistenz und zur Einführung der »Advanced Practice Nurse« auf den Weg bringen.
Union und SPD planen ein Bürokratieentlastungsgesetz im Gesundheitswesen, das die Dokumentationspflichten und Kontrolldichten »massiv« verringern soll. Das Gesetz soll eine Vertrauenskultur etablieren und die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Professionen stärken. Die bereits bestehenden Datenschutzvorschriften und Berichts- und Dokumentationspflichten sollen auf ihre zwingende Notwendigkeit geprüft werden.
Alle sozialversicherungsrechtlichen oder selbstverwaltenden Körperschaften des öffentlichen Rechts im Gesundheitswesen, die aus dem Beitragsaufkommen finanziert werden, sollen künftig die gleiche Gehaltsstruktur abbilden, die für die Mitarbeitenden der niedergelassenen Ärzteschaft, der Krankenhäuser und des öffentlichen Gesundheitsdienstes gelten. Künftig sollen sich die Gehälter der gesetzlichen Krankenkassen, des Medizinischen Dienstes und weiterer Akteure am Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD) orientieren.
Die elektronische Patientenakte (EPA) soll noch in diesem Jahr stufenweise in ganz Deutschland eingeführt werden. Einen konkreten Termin nennt der Koalitionsvertrag nicht. Zunächst ist eine bundesweite Testphase geplant, der eine verpflichtende und sanktionsbewehrte Nutzung folgt. Die Gematik soll zu einer modernen Digitalagentur weiterentwickelt werden. Außerdem müssen nach dem Willen der Koalitionäre alle Anbieter von Software- und IT-Lösungen im Bereich Gesundheit bis 2027 einen verlustfreien, unkomplizierten, digitalen Datenaustausch auf Basis einheitlich definierter Standards sicherstellen.
Deutschland soll zum Spitzenstandort der Gesundheitsforschung werden. Dafür will die Koalition die Datennutzung beim Forschungsdatenzentrum Gesundheit verbessern. In der klinischen Forschung sollen Hürden abgebaut und harmonisierte Regelungen mit anderen EU-Staaten eingeführt werden, zum Beispiel in der CAR-T-Zelltherapie.
Die von der Union immer wieder geforderte Rücknahme der Cannabis-Teillegalisierung hat es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft. Stattdessen haben sich die Parteien darauf geeinigt, im Herbst 2025 eine ergebnisoffene Evaluierung des Gesetzes durchzuführen. Eine entsprechende Prüfung ist im Cannabis-Gesetz der Ampel ohnehin vorgesehen.
Menschen in Gesundheitsberufen sollen besser vor Gewalt und Angriffen geschützt werden. Dafür plant die Koalition strafrechtliche Verschärfungen. Außerdem will man einen erweiterten Schutz für Kommunalpolitiker sowie für das Allgemeinwohl tätige Menschen prüfen.