| Angela Kalisch |
| 26.04.2024 07:00 Uhr |
Blick in den Ausstellungsraum »Bedrohung«: im Hintergrund mit der Skulptur »René« von Patricia Waller, 2020, Häkelarbeit / © PZ/Angela Kalisch
Kein anderer Ort hat eine so identifikationsstiftende Bedeutung wie das eigene Zuhause. Egal ob Eigenheim oder Mietwohnung; die eigenen vier Wände bieten im Idealfall Schutz und Geborgenheit, sind privater Rückzugsort und Raum für persönliche Gestaltung. Redewendungen wie »Trautes Heim, Glück allein« und »My Home is my Castle« zeugen von seinem hohen Stellenwert. Das Zuhause gilt es nach außen zu verteidigen.

Wienand Verlag 2024, 176 Seiten, 140 farbige Abbildungen, ISBN: 978-3-86832-794-6, EUR 32
Katharina Henkel (Hrsg.): Home Sweet Home. Zuhause sein von 1900 bis heute. Katalog zur Ausstellung im Kulturforum Ingelheim – Altes Rathaus. Versandkostenfrei bestellen bei govi.de
Unter dem Titel »Home Sweet Home« zeigt die diesjährige Ausstellung der »Internationalen Tage« im Kulturforum Ingelheim allerdings keineswegs nur die sonnigen, sondern auch die finsteren Seiten im trauten Heim. Katharina Henkel, die als neue Kuratorin erstmals die traditionsreiche Kulturreihe verantwortet, will mit dem Thema »Zuhause« einen Generationenwechsel vollziehen. Ihr Konzept sieht vor, einen zeitlichen und auch gattungsübergreifenden Bogen in die Gegenwartskunst zu schlagen.
Die aktuelle Ausstellung ist laut Henkel insofern programmatisch; sie zeigt zahlreiche Werke von neu entdeckten zeitgenössischen Künstlern genauso wie von großen bekannten Namen wie Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Edvard Munch und Pablo Picasso. Zeichnungen, Gemälde, Fotografien, Skulpturen und Videoarbeiten finden nebeneinander ihren Platz. Die Klammer bildet das durch Innenräume definierte Zuhause, in dessen Mittelpunkt nicht das Interieur selbst steht, sondern die Tätigkeit der Menschen, die sich allein oder in Gruppen in diesen Räumen bewegen. Im Spannungsfeld von alten und neuen Werken zeigt sich, auf welch unterschiedliche Weise sich Künstlerinnen und Künstler mit einem Sujet auseinandersetzen.
Rund 120 Werke von mehr als 80 Künstlern sind im Alten Rathaus in Ingelheim ausgestellt. Jeder der fünf Räume der Ausstellung befasst sich mit einem eigenen Themenbereich (Privatsphäre, Geborgenheit, Bedrohung, Freizeit und Arbeit), wobei jeweils zwei als Gegenspieler zueinander zu verstehen sind. Am Anfang des Rundgangs geht es um Privatsphäre und damit um den Aspekt der Intimität, die sich im Schutz der eigenen vier Wände nackt und ungeniert ausleben lässt. Darstellungen von Liebespaaren im Bett, von Frauen bei der Körperpflege und beim Ankleiden oder von vor dem Spiegel posierenden jungen Männern offenbaren dabei einen voyeuristischen Blick auf die Beschäftigung mit sich selbst, die eigentlich dem Blick von außen verborgen bleiben sollte.
Teil 2 und 3 bilden das Gegensatzpaar Familie und Geborgenheit versus Bedrohung und Gewalt. Wie das Zuhause den ganzen Lebenszyklus eines Menschen abbilden kann von der Erzeugung und Geburt über die Kindheit und Gründung einer eigenen Familie bis hin zu Gebrechlichkeit und Tod, wird in zahlreichen Facetten dargestellt. Thematisiert werden sowohl der liebevolle Umgang und die Fürsorge innerhalb der Familie als auch Trauer und psychische Belastung und damit die Brüchigkeit der heilen Welt. Eine ernsthafte Bedrohung des Schutzraums Zuhause kann zudem durch ökonomische Not, innerfamiliär ausgeübte Gewalt oder Krieg und Vertreibung entstehen – bis hin zu dem Zwang, das Zuhause verlassen zu müssen.
Etwas mehr Leichtigkeit vermittelt abschließend die Gegenüberstellung von Freizeit und Arbeit. Das Zuhause als Ort von Müßiggang und Faulheit. Seine Freizeit kann der Mensch allein oder in Gesellschaft verbringen, sie lesend, musizierend, spielend, feiernd gestalten oder auch einfach ausruhen. Werke aus unterschiedlichen Epochen werfen einen Blick auf den Zeitvertreib, aus dem kreative Ideen entspringen können, aber keineswegs müssen. Im Kontrast zum süßen Nichtstun steht die Arbeit am und im eigenen Zuhause. Haushalt und Hausarbeit strukturieren die Zeit und den Alltag, ihr nicht enden wollender Kreislauf stellt eine beständige Last dar, ihre Routine kann aber auch beruhigende Zuverlässigkeit bedeuten. Zudem ist über das Homeoffice die Arbeitswelt in den privaten Raum eingezogen. Bei der Arbeit im Atelier schließlich verschmelzen die Grenzen zwischen privatem Raum, Arbeitsstätte und Kunst miteinander.
Aus dem Nebeneinander und Miteinander von Werken der klassischen Moderne und zeitgenössischen Arbeiten ergeben sich spannende Gegensätze und Parallelen. Dabei bietet das Thema einen Zugang, mit dem sich jede Besucherin und jeder Besucher identifizieren kann sei es im Sinne von Selbstbestätigung oder Erkenntnis. »Zuhause« geht jede und jeden etwas an, unabhängig vom Alter oder der eigenen Lebenssituation und lässt deshalb auch niemanden unberührt. Ob mit ironischer Leichtigkeit oder verstörend und erschütternd: Die Vielfalt der Kunstwerke mit dennoch klarem gemeinsamen Fokus lädt dazu ein, die Risse und Brüche rund um das Zuhause zu erkunden und darüber ins Gespräch zu kommen.
Die »Internationalen Tage« sind ein Kulturengagement von Boehringer Ingelheim. Sie finden seit 1959 jährlich statt.
Die aktuelle Ausstellung »Home Sweet Home« ist noch bis zum 30. Juni 2024 zu sehen im Kulturforum Ingelheim – Altes Rathaus, François-Lachenal-Platz 1, Ingelheim am Rhein
Di.-Fr. 11-18.30 Uhr, Sa., So. und an Feiertagen 11-18 Uhr
www.internationale-tage.de
Der Katalog zur Ausstellung beinhaltet nicht nur die Kunstwerke, sondern auch Essays von dem Arzt und Autor Jakob Hein sowie von Daniel Schreiber, dessen Buch »Zuhause« (Suhrkamp 2018) sich mit der Suche und Sehnsucht nach dem Ort beschäftigt, an dem wir leben wollen und mit dem sich Menschen sinnstiftend verbunden fühlen.