Alglucosidase alfa, Pegaptanib, Rotavirus-Vakzine und Tigecyclin |
02.06.2006 11:04 Uhr |
<typohead type="3">Alglucosidase alfa, Pegaptanib, Rotavirus-Vakzine und Tigecyclin
von Conny Becker, Berlin, Brigitte M. Gensthaler, München, und Kerstin A. Gräfe, Eschborn
Im Mai kamen vier neue Arzneistoffe auf den Markt: Ein Orphan drug zur Behandlung der Morbus-Pompe-Erkrankung, ein Impfstoff für Säuglinge gegen Rotavirus-Infektionen, ein erster Vertreter einer neuen Antibiotikaklasse sowie ein Hemmer des Wachstumsfaktors VEGF zur Therapie der altersabhängigen Makuladegeneration.
Alglucosidase alfa
Mit Alglucosidase alfa (MyozymeTM 50 mg Lyophilisat für ein Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung, Genzyme Europe B.V.) steht nun eine Enzymersatztherapie für Menschen mit Morbus Pompe zur Verfügung. Die Zulassung für die autosomal rezessiv vererbte Erkrankung, die auch Glykogenspeicherkrankheit Typ II, Glykogenose Typ II oder Myopathie bei Mangel an saurer Maltase genannt wird, erfolgte als Orphan drug. Schätzungen zufolge leiden weltweit weniger als 10.000 Menschen an der seltenen lysosomalen Speicherkrankheit.
Betroffene weisen einen Mangel an α-1,4-Glukosidase auf, womit der durch diese katalysierte Glykogenabbau in den Lysosomen nicht mehr ausreichend ist und Glykogen akkumuliert. Die wachsenden Lysosomen können reißen, was zu einer Selbstverdauung der Zelle führt. Da Glykogen vor allem in Muskelzellen zu finden ist, kommt es zur Muskeldystrophie. Skelett-, Herz- und Zwerchfellmuskeln sind betroffen, die Patienten sterben meist an Atemversagen, je nach Schwere der Verlaufsform schon vor dem ersten Lebensjahr oder erst im Jugend-/Erwachsenenalter.
Alglucosidase alfa (rhGAA) ist eine rekombinante Form der humanen sauren α-1,4-Glukosidase. Das Glykoprotein wird per rekombinanter DNA-Technologie aus Zellkulturen der Ovarien chinesischer Hamster gewonnen. Die empfohlene Dosis liegt bei 20 mg/kg Körpergewicht alle zwei Wochen, wobei die Behandlung von einem Arzt überwacht werden muss, der mit der Therapie erblicher Stoffwechselerkrankungen vertraut ist. Nach intravenöser Gabe verläuft die Pharmakokinetik proportional zur Dosis, in die Lysosomen wird Alglucosidase alfa vermutlich über Mannose-6-Phosphatrezeptoren aufgenommen. Die Eliminationshalbwertszeit aus dem Blut beträgt zwei bis drei Stunden.
Die Sicherheit und Wirksamkeit von Alglucosidase alfa ist in vier kleinen Studien untersucht worden. In einer randomisierten, historisch kontrollierten Open-label-Studie erhielten 18 nicht beatmete Patienten mit der schweren infantilen Verlaufsform ein Jahr lang alle zwei Wochen entweder 20 oder 40 mg/kg des Enzyms. Primäre Endpunkte waren Überleben oder beatmungsfreies Überleben. Nach einem Jahr lebten noch alle 18 Patienten, die zu Beginn der Studie sechs Monate alt oder jünger waren; 15 von ihnen kamen ohne Beatmung aus. In der historischen Kontrolle dagegen war von 42 Patienten mit 18 Monaten nur noch einer am Leben. Die Behandlung verbesserte zudem die Kardiomyopathie (die übermäßige linksventrikuläre Herzmasse nahm ab), die motorischen Funktionen sowie das Körperwachstum im Vergleich zum Studienbeginn. Eine zweite Studie mit 21 Morbus-Pompe-Patienten im Alter von sechs Monaten bis 3,5 Jahren legt nahe, dass die motorische Funktion und die Atmung umso stärker verbessert werden, je früher die Therapie beginnt. In zwei weiteren Studien mit fünf 5- bis 15-jährigen beziehungsweise zehn 9- bis 54-jährigen Patienten konnte eine Behandlung mit 20 mg/kg vor allem die Lungenfunktion verbessern. Die Wirkung auf motorische Funktionen war unterschiedlich, zum Teil konnten aber verloren gegangene Fähigkeiten wiedergewonnen werden. Um eine positive Wirkung bei der späteren Verlaufsform zu postulieren, liegen allerdings noch nicht ausreichend Daten vor.
Die häufigsten unerwünschten Arzneimittelwirkungen waren Infusionsnebenwirkungen wie Fieber, Erröten, Urtikaria oder Exanthem. Daneben kam es zu Tachykardie, Tachypnoe, Husten sowie einer verminderten Sauerstoffsättigung. Die meisten UAWs verliefen leicht bis mittelschwer und traten während oder bis zu zwei Stunden nach der Infusion auf. Die Mehrzahl der Patienten entwickelten innerhalb von drei Monaten Therapie IgG-Antikörper gegen Alglucosidase alfa, wobei die Auswirkungen noch nicht untersucht sind. Die Antikörpertiter sollten regelmäßig überwacht werden.
Pegaptanib
Mit Pegaptanib wurde erstmals ein VEGF-Inhibitor für Patienten mit der feuchten Form der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) zugelassen. Der Arzneistoff wird direkt ins Auge gespritzt. Erhältlich ist das neue Medikament in einer Fertigspritze mit 1,65 mg Pegaptanib-Natrium, entsprechend 0,3 mg der freien Säure des Oligonukleotids (Macugen®; Pfizer). Pegaptanib ist ein chemisch synthetisierter, modifizierter, aus 28 Basen bestehender Nukleinsäure-Strang, der kovalent mit zwei Polyethylenglykolgruppen verbunden ist.
Das Protein VEGF steuert im gesamten Körper die Angiogenese und vaskuläre Gefäßpermeabilität. In der Netzhaut des Auges wurden vor allem die Isoformen VEGF121 und VEGF165 nachgewiesen. Das 165-Aminosäuren-Molekül ist hauptsächlich an der pathologischen Neovaskularisation beteiligt und wirkt stark entzündungsfördernd. Wurde bei Mäusen diese VEGF-Form ausgeschaltet, entwickelten die Tiere ein normales Netzhautkapillarnetz, aber keine pathologische Gefäßneubildung.
Ziel der Therapie mit Pegaptanib ist es, bei Patienten mit AMD das Gefäßwachstum und die Leckage (siehe Kasten) einzudämmen und den fortschreitenden Sehverlust aufzuhalten und oder zu verlangsamen. Dazu wird das neue Medikament unter aseptischen Bedingungen direkt in den Glaskörper des Auges gespritzt (intravitreale Injektion) und penetriert durch die Netzhaut. Die Behandlung erfolgt alle sechs Wochen (neun Injektionen pro Jahr).
Die altersabhängige Makuladegeneration (AMD) ist eine chronisch fortschreitende Erkrankung der Macula lutea. Dieser »gelbe Fleck« ist der kleine, zentral gelegene Abschnitt der Netzhaut, der für das scharfe fokussierte Sehen verantwortlich ist. Die häufigsten Symptome einer AMD sind verschwommenes oder verzerrtes Sehen sowie ein zentraler blinder Fleck. Das periphere Sehvermögen bleibt in der Regel erhalten.
Die AMD wird im Allgemeinen in eine »trockene« atrophische und eine »feuchte« Form unterteilt. Die feuchte Form macht zwar nur 10 Prozent aller AMD-Fälle aus, ist aber für 90 Prozent der AMD-bedingten Erblindungsfälle verantwortlich. Einen Titelbeitrag zu den Therapieoptionen bei AMD finden Sie hier.
Pegaptanib wurde in zwei kontrollierten doppelblinden multizentrischen Studien geprüft. Eingeschlossen waren Patienten mit allen angiografischen Subtypen der AMD. Insgesamt 1190 Patienten (Durchschnittsalter 77 Jahre) erhielten randomisiert entweder 0,3, 1,0 oder 3,0 mg Pegaptanib oder eine Scheininjektion.
90 Prozent aus jeder Behandlungsgruppe schlossen die Studie ab; sie erhielten durchschnittlich 8,5 Injektionen. Der primäre Endpunkt war der Anteil der Patienten, die nach 54 Wochen weniger als 15 Buchstaben an Sehschärfe (drei Zeilen auf der Sehprobentafel) einbüßten.
Das Verum war in jeder Dosierung der Scheininjektion signifikant überlegen, wobei es keine Dosis-Wirkungs-Beziehung gab. In der Gruppe, die 0,3 mg erhielt, erreichten 70 Prozent der Patienten den Zielparameter, verglichen mit 55 Prozent in der Kontrollgruppe. Das Risiko eines schweren Sehverlusts, definiert als Verlust von 30 Buchstaben auf der Sehtafel, halbierte sich (von 22 auf 10 Prozent). Unter der Medikation konnten mehr Patienten ihre Sehschärfe bewahren oder sogar verbessern (33 versus 23 Prozent). Der Nutzen war unabhängig vom angiografischen Subtyp, der Läsionsgröße und Sehschärfe der Patienten und konnte in einer Fortsetzungsstudie über 102 Wochen aufrechterhalten werden. Die Wirksamkeit des VEGF-Hemmers war bereits nach sechs Wochen erkennbar.
Sehr häufige Nebenwirkungen am Auge waren Entzündungen der vorderen Augenkammer, Schmerzen, erhöhter Augeninnendruck, Keratitis punctata, Mouches volantes und Glaskörpertrübungen. Sie verliefen meist leicht bis mittelschwer. Als schwere Nebenwirkungen traten Entzündungen des Augeninneren (Endophthalmitis; 1,3 Prozent), Netzhaut- oder Glaskörperblutungen sowie Netzhautablösung (jeweils unter 1 Prozent) auf.
In den Studien erreichten Patienten im Frühstadium der AMD etwas bessere Therapieerfolge. Die Behandlung sollte daher so früh wie möglich beginnen. Da die AMD über Jahre hinweg fortschreitet, sind jedoch Langzeitdaten zu Wirksamkeit und Sicherheit von Pegatanib nötig.
Rotavirus-Lebendimpfstoff
Für Säuglinge ab einem Alter von sechs Wochen steht seit Mai eine aktive Immunisierung gegen die hoch ansteckende Infektion mit Rotaviren zur Verfügung (Rotarix®, GlaxoSmithKline).
Infektionen mit Rotaviren sind im Kindesalter die häufigste Ursache für die Aufnahme in eine Klinik. Fast jedes Kind macht die Infektion bis zu seinem fünften Lebensjahr durch, viele sogar mehrmals. Vor allem bei der Erstinfektion kommt es häufig zu einer massiven Gastroenteritis mit Übelkeit, Erbrechen, Fieber und zu starken wässrigen Durchfällen. Nicht selten verläuft eine Rotavirus-Infektion sogar lebensbedrohlich. Weltweit sind Rotaviren für rund 500.000 Todesfälle bei Kindern verantwortlich.
Rotarix ist eine monovalente attenuierte Lebendvakzine, die von dem häufigsten Serotyp G1P abgeleitet ist. Der orale Impfstoff ist in einer Spritze ohne Nadelaufsatz erhältlich und wird damit direkt an die Wangeninnenseite des Säuglings appliziert. Die Impfserie besteht aus zwei Dosen, wobei die erste Dosis ab einem Alter von sechs Wochen gegeben werden kann. Zwischen den einzelnen Dosen ist ein Zeitabstand von mindestens vier Wochen einzuhalten. Die Serie sollte vorzugsweise vor dem Alter von 16 Wochen verabreicht werden, muss aber in jeden Fall bis zur 24. Woche abgeschlossen sein. Die Impfung ist im Rahmen aller in Europa implementierten Impfschemata möglich und kann in Coadministration mit den üblichen Kinderimpfstoffen erfolgen.
Sicherheit und Wirksamkeit wurden in elf Studien mit über 60.000 Kindern in Finnland und Lateinamerika gestestet, von denen die Hälfte Placebo erhielt. Rotarix reduzierte schwere Gastroenteritiden nahezu um 100 Prozent und verhinderte 85 Prozent der schweren Durchfallerkrankungen. In Lateinamerika senkte der Impfstoff die Hospitalisierungsrate um 42 Prozent.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind eine vermehrte Reizbarkeit des Säuglings, Appetitverlust, Diarrhö, Erbrechen, Flatulenz, Bauchschmerzen, Aufstoßen von Nahrungsmitteln, Fieber und Abgeschlagenheit.
Tigecyclin
Mit Tigecyclin (Tygacil® 50 mg Pulver zur Herstellung einer Infusionslösung, Wyeth) ist der erste Vertreter einer von den Tetrazyklinen abgeleiteten Antibiotika-Substanzklasse, der Glycylcycline, im Handel. Der Arzneistoff ist zugelassen zur Behandlung von komplizierten Haut- und Weichgewebsinfektionen und komplizierten intraabdominellen Infektionen. Er zeichnet sich durch ein besonders breites Wirkspektrum gegen grampositive und gramnegative, aerobe und anaerobe sowie atypische Erreger als auch gegen multiresistente Keime aus. Vorteil des neuen Breitband-Antibiotikums ist, dass es als Monotherapie ohne vorangegangene Keim- und Resistenzbestimmung angewendet werden kann.
Tigecyclin wirkt ebenso wie Tetrazyklin, indem es an die 30S-Untereinheit der Ribosomen bindet und dadurch die Translation der bakteriellen Proteinsynthese hemmt. Im Gegensatz zu den Tetrazyklinen sind Glycylcycline jedoch in der Lage, die zwei wesentlichen Resistenzmechanismen, Effluxpumpen und ribosomale Schutzmechanismen, zu umgehen. Effluxpumpen bewirken ein schnelles Herauspumpen des Antibiotikums aus den Bakterien, womit die Wirksamkeit des Antibiotikums erheblich herabgesetzt wird. Ribosomale Schutzmechanismen verhindern, dass Antibiotika in die Proteinsynthese der Bakterien eingreifen. Die empfohlene Anfangdosis beträgt 100 mg, gefolgt von 50 mg alle 12 Stunden. Im Durchschnitt werden weniger als 20 Prozent von Tigecyclin metabolisiert. Der Hauptteil wird unverändert biliär ausgeschieden, sekundär wird unverändertes Tigecyclin oder sein Glucuronid auch renal eliminiert. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 42 Stunden.
Die Zulassung beruht auf vier Phase-III-Studien. In zwei internationalen Multicenterstudien wurde Tigecyclin versus Imipenem plus Cilastatin bei komplizierten intraabdominellen Infektionen verglichen. Es wurden 1658 Patienten randomisiert und 5 bis 14 Tage antibiotisch behandelt. Die klinischen Erfolgsraten lagen bei 88,2 Prozent unter Tigecyclin versus 89,3 Prozent unter der Kombination Imipenem/Cilastatin. Die Eradikationsraten betrugen 86,1 Prozent versus 86,2 Prozent.
In zwei weiteren Phase-III-Studien wurde Tigecyclin mit Vancomycin plus Aztreonam bei schweren Haut- und Weichgewebeinfektionen verglichen. Es wurden 1129 Patienten mit tiefen Weichgewebeinfektionen randomisiert und maximal 14 Tage lang behandelt. Die klinischen Erfolgsraten für Tigecyclin lagen bei 86,7 Prozent versus 87,1 Prozent unter bisheriger Standardtherapie. Die Erfolgsraten zeigten sowohl bei mono- als auch polymikrobiellen Infektionen keine signifikanten Unterschiede.
Bedeutsamste unerwünschte Wirkungen waren gastrointestinale Beschwerden; die Patienten litten unter Übelkeit und Erbrechen.