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Endogene Retroviren

Parasiten im Genom

Datum 16.02.2010  11:27 Uhr

Von Christina Hohmann / Viren greifen uns nicht nur von außen an, wir tragen sie auch in uns – und das seit Jahrmillionen. Ein großer Teil des menschlichen Genoms besteht aus viraler DNA, die Retroviren dort einbauten, als sie unsere Vorfahren infizierten.

Die Beziehung zwischen Mensch und Virus, dem Wirt und seinem Parasiten ist sehr eng. Wie eng sie tatsächlich ist, zeigte die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms. Ein überraschendes Ergebnis des Humanen Genomprojekts war nämlich, dass große Teile unseres Erbguts von Viren stammen. Diese viralen Sequenzen machen etwa 9 Prozent des gesamten Genoms aus und nehmen damit fünfmal soviel Platz ein wie die für Proteine codierenden Sequenzen. Die viralen Anteile stammen überwiegend von Retroviren, die vor 40 bis 70 Millionen Jahren die Vorfahren des Menschen infizierten und es dabei schafften, ihr Erbgut in das Genom ihres Wirtes dauerhaft einzubauen.

Eine Besonderheit befähigt die Retroviren dazu: Sie können sich nur vermehren, wenn sie ihr eigenes RNA-Erbgut in das Wirtsgenom integrieren, erklärt Professor Dr. Christine Leib-Mösch vom Institut für Virologie am Helmholtz-Zentrum, München, im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Dafür schreiben sie ihr einzelsträngiges RNA-Genom mithilfe des viralen Enzyms Reverse Transkriptase in eine doppelsträngige DNA-Kopie um. Diese baut das Enzym Integrase in das Wirtsgenom ein. Die integrierte Form des Virus wird als »Provirus« bezeichnet.

 

Exogene Retroviren, zu denen auch das HI-Virus zählt, infizieren in der Regel Körperzellen. Gelingt es den Erregern allerdings, ihr Genom in eine Keimzelle zu schleusen, wird dies von Generation zu Generation weiter vererbt. Es wird zu einem humanen endogenen Retrovirus (HERV). Dies ist im Prinzip nur eine DNA-Sequenz, die aus den viralen Genen gag, pol und env besteht, die von zwei Endstücken, den »Long Terminal Repeats« (LTR), eingefasst sind (siehe Abbildung).

Mittlerweile wurden etwa 30 Familien von HERV entdeckt. Sie sind fester Bestandteil des Genoms und werden nach den Mendel’schen Regeln vererbt. Sie sind aber nicht nur über Jahrmillionen erhalten geblieben, sondern haben sich in dieser Zeit im Genom auch noch »vermehrt«. Durch einen als Retrotransposition bezeichneten Mechanismus werden Kopien der Proviren erzeugt, die über das gesamte Genom verteilt werden können, während die Proviren selbst an ihrer ursprünglichen Position bleiben.

 

Unter viraler Kontrolle

 

Einmal eingefügt, gibt es keine Möglichkeit, die virale DNA wieder zu eliminieren. Nur durch Rekombination lassen sich zumindest Teile der viralen Sequenzen entfernen. Dabei bleibt aber in der Regel eine LTR-Sequenz zurück. »Daher sind im Genom viel mehr einzelne LTRs als Proviren«, sagt Leib-Mösch. Sie machen etwa 8,5 Prozent des menschlichen Erbguts aus, während vollständige Proviren nur einen Anteil von 0,5 Prozent bilden.

 

Die meisten humanen endogenen Retroviren sind inaktiv. Da sie nicht für Proteine codieren, die für die Zelle notwendig sind, sind sie anfällig für Mutationen. Kleine Fehler häufen sich an, und die Proviren werden funktionslos. Zudem hat die Wirtszelle noch die Möglichkeit, die viralen Sequenzen durch epigenetische Veränderungen, zum Beispiel durch Methylierung der DNA-Sequenz, stillzulegen, sagt Leib-Mösch. Dennoch wird ein Teil der viralen Sequenzen abgelesen, also transkribiert. »In Untersuchungen wurden solche Transkripte in allen Zelltypen gefunden«, sagt Leib-Mösch. Manche Transkripte sind funktionslos, manche codieren für nützliche Proteine und manche für potenziell pathogene Proteine. »Man vermutet, dass solche Proteine bei der Krebsentstehung und bei der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen oder neurologischen Erkrankungen eine Rolle spielen könnten«, erklärt die Forscherin. »Andere haben eine echte zelluläre Funktion.«

 

Ein Beispiel hierfür ist das Protein Syncitin, das für den Aufbau der Plazenta benötigt wird. Es ist das Hüllprotein ENV des humanen endogenen Retrovirus HERV-W, das in fetalen Zellen produziert wird. Dort wird es für die Bildung einer Zellschicht der Plazenta benötigt, die durch Zellfusion entsteht. Auch bei Schafen und Mäusen wurde eine ähnliche Funktion von Retroviren für die Ausbildung des Mutterkuchens gefunden. Diese Tiere verwenden allerdings andere endogene Retroviren als der Mensch. In diesen Fällen tolerieren die Wirte nicht nur die viralen Parasiten im Genom, sondern haben sie sich sogar zunutze gemacht. »Ein kleiner Teil der Sequenzen hat im Laufe der Evolution auf diese Weise eine Funktion übernommen«, sagt die Biochemikerin.

 

Dies gilt auch für die LTRs. »Eine halbe Millionen dieser Sequenzen liegen in unserem Erbgut verstreut«, berichtet die Forscherin. »Alle 7 Kilobasen findet sich im Schnitt eine solche Sequenz.« Die LTRs enthalten die Steuerelemente für die Expression der Virusgene. Dies sind Startsignale, um die Transkription zu initiieren oder zu verstärken, sowie Stoppsignale, die das Ablesen der Gene beenden. »Wenn LTRs in der Nähe von menschlichen Genen integriert sind, können sie deren Expression beeinflussen«, sagt Leib-Mösch. Neueren Untersuchungen zufolge würden 5,9 Prozent unserer Gene auf diese Weise kontrolliert. Ein Beispiel hierfür sind die Gene für das Verdauungsenzym Amylase. Die meisten Säugetiere bilden dieses Enzym ausschließlich in der Bauchspeicheldrüse. Der Mensch kann es jedoch auch in der Speicheldrüse bilden, was einen Selektionsvorteil darstellt, da die Stärke in der Nahrung besser aufgeschlossen werden kann. Dies verdankt er einem Retrovirus, der sich in die Nähe von drei Amylasegenen in das Genom einnistete und den pankreasspezifischen Promotor in einen mundspeicheldrüsenspezifischen umwandelte.

 

Weitere Beispiele für durch virale Sequenzen gesteuerte Gene sind das Leptin- und das Leptinrezeptorgen, deren Produkte für die Kontrolle des Körperfettgehalts mit verantwortlich sind. Sie werden beide durch LTR-Sequenzen reguliert. Aber HERV-Sequenzen sind nicht nur am Start der Transkription beteiligt, sondern können in einigen Fällen das Ablesen von Genen auch beenden. Somit hat der Wirt die viralen Schalter umfunktioniert und setzt sie als Schalter für den eigenen Stoffwechsel ein.

 

Ihre schädigende Wirkung haben die Viren schon seit Langem verloren. Aber verhalten sie sich immer ruhig? Könnten die Retroviren im Genom ihre Infektiosität zurückerhalten und wieder Viruspartikel produzieren? »Ausschließen kann man das nicht«, sagt Leib-Mösch. Im Labor ließen sich verschiedene humane endogene Retroviren durch wenige Mutationen wieder reaktivieren, die dann Viruspartikel bilden, die menschliche Zellen infizieren können. Theoretisch wäre das auch in einem Menschen möglich. »Es kann sein, dass dies in Einzelfällen passiert«, so die Forscherin. Was für Folgen dies für den Betroffenen hat, ist unklar. »Man kann nicht ausschließen, dass diese Viren dann zu Krankheiten führen, wobei sie vermutlich kein akutes Krankheitsbild, sondern ein sehr viel später einsetzendes wie etwa Leukämie verursachen.« Der Betroffene könnte aber in aller Wahrscheinlichkeit keine anderen Menschen infizieren und auch keine Epidemien auslösen. »Dafür ist das Virus viel zu gut an den Menschen adaptiert«, sagt Leib-Mösch. Der Mensch hat sich mit den Parasiten in seinem Erbgut arrangiert. /

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