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Kinderschutz

Diagnose Misshandlung

02.02.2010  13:35 Uhr

Von Bettina Sauer, Berlin / Kindesmisshandlung ist nicht nur eine Straftat, sondern auch eine medizinische Diagnose. Eine Fachtagung erörterte, wie Ärzte die Anzeichen erkennen und richtig reagieren. Die Hinweise nützen auch allen anderen, die sich für das Kindeswohl engagieren möchten.

Dominik, 15 Monate, landete im Wäschetrockner. Der neue Freund seiner Mutter steckte ihn hinein, weil der Kleine ihn beim Fernsehen gestört hatte. Dann stellte er das Gerät an. Dominik hatte Glück. Ein Nachbar kam vorbei, der die Unruhe von Dominiks älterer Schwester bemerkte und sich von ihr zum Wäschetrockner lotsen ließ. So endete der Horrortrip des Kindes nach zwei Minuten mit Prellungen und Verbrennungen noch glimpflich.

Der Fall geschah in Duisburg und wurde bei einer Fachtagung des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), der Deutschen Kinderhilfe und der Techniker Krankenkasse in Berlin vorgestellt. Mehrere Tausend Mal im Jahr ermittle die Kriminalpolizei gegen Eltern, die ihre Kinder misshandelt, sexuell missbraucht oder schwer vernachlässigt hätten, sagte Klaus Jansen, Vorsitzender des BDK. Was es dabei mitunter zu sehen gebe, lasse selbst hartgesottene Mitglieder der Mordkommissionen schlucken: »Kinder, die inmitten von Unrat leben, Kinder mit gebrochenen Knochen oder Spuren von Schlägen, Fesseln und Brandlöchern am Körper, selbst tote Kinder, manchmal verscharrt, verbrannt oder wie Müll entsorgt.« All das werde ihnen da angetan, wo sie eigentlich am sichersten sein sollten: in der eigenen Familie.

 

Zudem dürfte die Dunkelziffer Jansens Einschätzung nach weit höher liegen. Denn in Deutschland genieße die Privatsphäre der Familie einen hohen Schutz, das staatliche System zum Wohl der Kinder weise dagegen Mängel auf. Bei der Fachtagung stellten die Referenten Lösungsansätze vor, um gefährdete Kinder so früh wie möglich zu entdecken, die richtigen Maßnahmen einzuleiten und so hoffentlich viele Einsätze der Kriminalpolizei überflüssig zu machen.

 

Eine große Rolle scheint dabei den Ärzten zuzukommen: »Sie sehen so gut wie alle Kinder in Deutschland regelmäßig, also auch die gefährdeten oder sogar schon misshandelten«, sagte Dr. Wilfried Kratzsch, Kinderneurologe im Ruhestand und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft.

 

»Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sind nicht nur Straftatbestände, sondern auch medizinische Diagnosen«, bestätigte Dr. Ralf Kownatzki, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit eigener Praxis in Duisburg. Der Diagnosekatalog ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet vier Formen: die körperliche Kindesmisshandlung, den sexuellen und psychischen Missbrauch sowie das Vernachlässigen oder Im-Stich-Lassen.

 

Warnzeichen für alle vier Gruppen finden sich in der Broschüre »Kindesmisshandlung«, die BDK und Techniker Krankenkasse 2009 veröffentlichten (www.bdk.de/bdk-fachthemen/publikationen/pockettipps/pocket-kindesmisshandlung). Demnach deuten Risikofaktoren, die Eltern Studien zufolge zu einem gewalttätigen Verhalten treiben, sowie Anzeichen und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder auf eine mögliche Misshandlung oder Vernachlässigung hin (siehe Kästen). »Wenn Eltern keine schlüssige Erklärung für Verletzungen geben könnten oder Geschwister oder andere Kinder dafür verantwortlich machten, muss der Arzt aufmerken«, betonte Kownatzki.

Elterliche Gewalt

Begünstigende Risikofaktoren:

 

schwierige soziale Lage,

eigene Kindheitserfahrungen von Misshandlung oder Vernachlässigung,

lang anhaltende/gewalttätige Konflikte in der Partnerschaft,

Ablehnung des Kindes durch den neuen Lebenspartner der Mutter,

ungewollte Schwangerschaft,

legaler und/oder illegaler Drogenmissbrauch,

psychische Erkrankungen.

 

Im Falle eines Verdachts steht er vor einer schwierigen Entscheidung. Denn eigentlich unterliegt er nach § 203 im Strafgesetzbuch der ärztlichen Schweigepflicht. Diese tritt allerdings gemäß § 34 im selben Gesetzbuch außer Kraft, wenn die medizinischen Befunde eine Gefahr für Leib, Leben oder Ehre eines Menschen vermuten lassen. »Der Arzt muss also einen Balanceakt leisten und zwischen Schweigepflicht und Kindeswohl abwägen«, sagte Kratzsch. Dabei sei die Lage oft nicht eindeutig, zudem riskiere der Mediziner dabei selbst eine Anzeige der betroffenen Eltern. »Egal, wie sich der Arzt entscheidet, er soll stets sämtliche diagnostischen Hinweise genau dokumentieren, zum Beispiel durch Fotos, und seiner medizinischen Verantwortung nachkommen, also das Kind optimal versorgen und gegebenenfalls für weitergehende Untersuchungen zu einem Facharzt oder in die Kinderklinik überweisen.«

 

Letzteres hält Kownatzki für ein gutes Mittel, um Kinder schnell und unauffällig aus der familiären Gefahrenzone zu schaffen und die Diagnose durch weitere Mediziner zu sichern. In einigen deutschen Kinderkliniken gibt es neuerdings sogar spezielle Kinderschutzgruppen, um Fälle von Misshandlung und -vernachlässigung zu erkennen. Ansonsten kann der Arzt laut Broschüre frei entscheiden, ob er Justizbehörden, Polizei oder Jugendämter informiert, die dann zur Einleitung der erforderlichen Maßnahmen verpflichtet sind.

Allerdings gibt es bezüglich der ärztlichen Überwachung ein Problem, berichtete Kratzsch: »Um ihre Taten zu vertuschen, gehen viele gewalttätige Eltern mit ihren Kindern nur selten zum Arzt, oder sie betreiben Doktor-Hopping, wechseln also häufig die Praxis.« Um diesem Ausweichverhalten entgegenzusteuern, gründete Kownatzki mit dem Duisburger Kriminalkommissar Heinz Sprenger das Projekt »RISKID«. »Dabei handelt es sich gewissermaßen um eine virtuelle Großarztpraxis von Duisburger Kinder- und Jugendärzten mithilfe einer gemeinsamen Datenbank«, sagte Kownatzki. Sie enthalte derzeit Informationen über 229 Kinder, denen vermutlich zu Hause Gewalt angetan wird. Durch einen kurzen Abgleich mit der Datenbank wüssten die Ärzte, welche Neuzugänge besonders im Auge zu behalten seien. Um Ärzte-Hopping auch überregional entgegenzuwirken, forderten BDK und Deutsche Kinderhilfe bei der Tagung die bundesweite Einführung von RISKID. Allerdings befindet es sich derzeit in einer rechtlichen Grauzone. Denn nach den bestehenden Gesetzen dürfen sich Ärzte ohne das Einverständnis der Eltern nicht einmal untereinander austauschen.

 

Kinderschutzgesetz gefordert

 

Deshalb verlangten BDK und Deutsche Kinderhilfe eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht im Sinne des Kindeswohls. »Ärzte müssen sich gegenseitig informieren und bei Verdacht auf Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch die für den Kinderschutz zuständigen Behörden informieren können, ohne sich selbst der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen«, sagte Jansen. Zudem forderten die Referenten, die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Vorsorgeuntersuchungen zur Pflicht zu machen, bundesweit einheitliche Qualitätsstandards für die Arbeit der Jugendämter zu schaffen und grundsätzlich das Gesundheitssystem und die Kinder- und Jugendhilfe viel enger zu verzahnen. »Dadurch lässt sich der Gewalt vielfach von vornhe­rein vorbeugen«, erklärte Kratzsch. »Denn Hebammen und Mitarbeiter der Geburtskliniken genießen ein hohes Vertrauen. Es gelingt ihnen oft, mit den Eltern der Babys über familiäre Risikofaktoren, wie etwa Sucht- oder Partnerschaftsprobleme, zu sprechen und sie gegebenenfalls zur Zusammenarbeit mit den Jugendämtern zu motivieren.« Das zeigten Modellprojekte in mehreren Bundesländern, etwa zum mehrmonatigen Einsatz von Familienhebammen. BDK und Kinderhilfe forderten den flächendeckenden Ausbau eines solchen Systems der frühen Hilfen.

 

Zudem wünschen sie sich die Bündelung sämtlicher Maßnahmen in einem einzigen Gesetz. Ein entsprechender Entwurf der großen Koalition scheiterte vor der Bundestagswahl. Auch der Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung sieht die Einführung eines Kinderschutzgesetzes vor, einschließlich Familienhebammen und weiterer Präventionsmaßnahmen sowie einer »Klarstellung der ärztlichen Schweigepflicht«. Familienministerin Kristina Köhler hat sich dafür schon mit Kinderschutzexperten getroffen. Bleibt abzuwarten, wie sich das Projekt entwickelt.

 

Jeder kann helfen

 

»Die Bürger sollten aber nicht nur auf die Politik setzen, sondern selbst Verantwortung übernehmen«, sagte Gina Graichen im Gespräch mit der PZ. Sie leitet das »Kommissariat für Delikte an Schutzbefohlenen« bei der Berliner Polizei. Dort können die Hauptstädter, Privatpersonen, ebenso wie Erzieher, Ärzte oder Apotheker, anrufen, wenn sie Gefahr für ein Kind in ihrem Umfeld vermuten. Die Nummer gibt es seit 2004. »Zuvor ermittelten wir in einigen erschütternden Fällen von Kindesmisshandlung«, sagte Graichen. »Und dabei fiel uns auf, dass die Menschen in der Umgebung viel hören, sehen und wissen, aber unsicher sind, ob sie deshalb handeln und an wen sie sich dann wenden sollen.«

 

Graichens Team geht allen telefonischen Hinweisen nach, auch den anonymen. »Bis heute sind rund 4000 Anrufe bei uns eingegangen. Etwa 80 Prozent führten tatsächlich zu einer Strafanzeige.« Spezielle Kinderschutznummern gibt es inzwischen auch in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Bremen. Wer sich in anderen Regionen um das Wohl eines Kindes sorgt (Hinweise siehe Kästen), wendet sich Graichen zufolge am besten an das örtliche Jugendamt, bei Verdacht auf akute Gefahr an den polizeilichen Notruf 110.

Gewalt gegen Kinder erkennen

Die Wohnung wirkt verwahrlost (Gestank, Müll stapelt sich vor der Tür, der Briefkasten quillt über),

Fenster sind zugeklebt, Vorhänge immer geschlossen, Rollläden heruntergelassen,

aus der Wohnung ertönt oft Elternstreit oder kindliches Schreien, Weinen und Wimmern,

Eltern gehen allgemein grob mit ihrem Nachwuchs um,

das Kind hält sich kaum oder auffällig viel außerhalb der Wohnung auf,

das Kind fehlt häufig in der Schule oder im Kindergarten,

das Kind verhält sich auffällig (zeigt Aggressivität, Apathie, Ängstlichkeit, Zutraulichkeit, Konzentrationsmängel, schlechte Schulleistungen).

Vernachlässigung zeigt sich oft am ungepflegten Äußeren des Kindes, einem schlechten Zustand der Zähne und zu kleiner, schmutziger oder nicht wettergemäßer Kleidung.

Auf einen sexuellen Missbrauch deuten Verletzungen (wie Blutergüsse, Striemen, Einrisse) im Genital- oder Analbereich hin, die sich nicht plausibel durch Unfälle erklären lassen.

Körperliche Misshandlungen zeigen sind vor allem als Verletzungsspuren, wie Blutergüsse, verkrustete und frische Wunden, Knochenbrüche, Verbrennungen.Besonders auffällig sind Verletzungen, wenn sie:

zahlreich, schwer oder verschieden alt sind,

unfalluntypisch aussehen (Striemen, Biss- und Fesselungsspuren, Brandlöcher, Würgemale, kahle Stellen am Kopf und geformte Blutergüsse, die etwa den Abdruck der Finger zeigen),

an unfall-untypischen Stellen auftreten (vor allem Gesicht, Hals, Rücken, Brust, Bauch, Pobacken, Oberschenkeln und Fußrücken).

Nach neuen Untersuchungen kommt es im Zuge von Kindesmisshandlung oft zu Hirnverletzungen (Ödemen, Blutungen mit/ohne Schädelbruch). Als Schutzbehauptung dient oft der Sturz vom Wickeltisch.

Typisch für ein Schütteltrauma ist die Kombination aus Hirnverletzung und Griffspuren an den Armen, Beinen oder am Brustkorb des Kindes.

 

 

Quelle: BDK-Leitfaden »Kindesmisshandlung«, Kriminalkommissarin Gina Graichen

»Ihr Anruf kann Leben retten, also zögern Sie nicht zu lange«, sagte Graichen. »Achten Sie unbedingt darauf, ob sich die Situation infolge Ihres Engagements verbessert. Sonst müssen Sie wieder aktiv werden.« Denn ein Kind sei gewalttätigen Eltern meist völlig wehrlos ausgeliefert. »Wenn Erwachsene aus dem Umfeld nicht helfen, ist es wahrscheinlich verloren.« /

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