Auf welche Apothekendaten will die EU zugreifen? |
Jennifer Evans |
19.10.2022 13:00 Uhr |
Der EU-Gesundheitsdatenraum ist einer der Bausteine der geplanten europäischen Gesundheitsunion, die die EU-Kommission in den kommenden Jahren aufbauen will. Viele Fragen in Bezug auf die Harmonisierung der Gesundheitssysteme sind derzeit aber noch offen. / Foto: Adobe Stock/mixmagic
Die Europäische Union will in Zukunft die Versorgung, die Forschung und die Interoperabilität der nationalen Gesundheitssysteme ihrer Mitgliedstaaten verbessern, indem sie diese so verknüpft, dass ein sicherer Austausch von Gesundheitsdaten möglich ist. Zu diesem Zweck will sie einen Europäischen Gesundheitsdatenraum beziehungsweise European Health Data Space (EHDS) ins Leben rufen.
Im Kern geht es in dem Vorschlag der EU-Kommission darum, dass die EU-Bürger über die Landesgrenzen hinweg Gesundheitsdienstleistungen erhalten können. Also auch ihre Rezepte in jeder Apotheke innerhalb der EU einlösen können. Um diesen Austausch von Gesundheitsdaten und deren Nutzung allerdings länderübergreifend zu ermöglichen, sind gemeinsame qualitative und technische Standards nötig. Für die nationalen Verwaltungen bedeutet das, Regeln für eine effiziente Zusammenarbeit auf EU-Ebene zu entwickeln.
Doch das EHDS-Vorhaben, das die EU-Kommission als »gesundheitsspezifisches Ökosystem« bezeichnet, ist mit einigen Herausforderungen verbunden. Die größten Hürden liegen wohl darin, beim Thema Datenschutz und in puncto Interoperabilität auf einen Nenner zu kommen. Fest steht: Die Patienten sollen sowohl im Inland als auch im Ausland die Kontrolle – also einen kostenlosen, digitalen Zugang – zu ihren elektronischen Gesundheitsdaten erhalten. Vorgesehen ist auch, dass alle medizinischen Dokumente automatisch in die entsprechende Sprache übersetzt werden und medizinisches Personal von jedem EU-Land aus auf die Gesundheitsdaten eines Patienten zugreifen kann.
Aufgabe der Mitgliedstaaten wird es sein, E-Rezepte, E-Patientenkurzakten, Bilddaten, Laborergebnisse sowie Entlassungsberichte in ein gemeinsames europäisches Format zu pressen. Das sollen in jedem einzelnen Land vorab benannte digitale Gesundheitsbehörden übernehmen. Diese wiederum sind gleichzeitig über die gemeinsame digitale Infrastruktur namens »MyHealth@EU« verbunden, die von der EU-Kommission verwaltet wird. Unter die Verantwortung der Kommission soll dabei unter anderem fallen, die Formate für den Datenaustausch zu definieren.
Grenzüberschreitende Projekte für die Sekundärnutzung der Daten sollen in Zukunft über die zweite Infrastruktur namens »HealthData@EU« laufen. Diese ist dezentral geplant, die Mitgliedstaaten verwalten also nach wie vor ihre eigenen Gesundheitsdaten. Allerdings ist aktuell keine Pflicht vorgesehen, gegenseitig die Datengenehmigungen anzuerkennen.
Zum Hintergrund: Grundsätzlich unterscheidet die EU zwischen einer Primärnutzung der Daten, etwa für E-Patientenakten, Medizinprodukte oder Hochrisikosysteme, sowie einer Sekundärnutzung, mit der sie ein vertrauenswürdiges und vernetztes Umfeld für Forschung, Innovation und Politikgestaltung meint. Als Basis soll unter anderem die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) dienen. Da es aber um sensible Gesundheitsdaten geht, müssen demnächst weitere Vorschriften her.
Grundsätzlich gilt: Wer als Unternehmen oder Forschender künftig Zugang zu den Daten erhalten möchte, muss sich eine Genehmigung einholen. Die Erlaubnis dazu erteilt eine Zugangsstelle für Gesundheitsdaten, die jeder EU-Mitgliedstaat selbst einrichten muss. Nach dem Willen der EU gibt es nur dann grünes Licht für eine Datennutzung, wenn der Antragsteller die angeforderten Informationen lediglich zu bestimmten Zwecken, in garantiert geschlossenen Umgebungen und ohne jedweden Bezug zur Identität des Patienten nutzen will. Solche zulässigen Zwecke für eine Sekundärnutzung sind unter anderem die Bereiche Forschung, Statistik, personalisierte Gesundheitsversorgung und Produktentwicklung. Ausgeschlossen soll die Nutzung ausdrücklich für Werbungs- oder Vermarktungszwecke sowie die Preiskalkulation von Versicherungen sein.
Der EHDS ist im Übrigen einer der zentralen Bausteine der europäischen Gesundheitsunion, die die EU-Kommission in den kommenden Jahren aufbauen will. Ziel dieser Gesundheitsunion ist es, zum einen für den Gesundheitsschutz der Europäer zu sorgen und zum anderen den Mitgliedstaaten eine gemeinsame Reaktion auf grenzüberschreitende Gesundheitskrisen möglich zu machen. Die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides bezeichnete den EHDS als einen »grundlegenden Umbruch im digitalen Wandel der Gesundheitsversorgung in der EU«. Grundlagen dafür sollen bis zum Jahr 2025 stehen.
Nicht zu vergessen ist: Das EHDS-Großprojekt wird auch die Gesundheitswirtschaft ankurbeln, in dem beispielsweise ein Binnenmarkt für Gesundheitsdienste und -produkte entstehen wird. Zugleich können sich die Hersteller demnächst aber auch auf dieselben Rahmenbedingungen verlassen.
Die Apotheken betrifft die geplante Primärnutzung der Gesundheitsdaten in Zusammenhang mit ihrem Angebot an pharmazeutischen Dienstleistungen. Für diese Leistungen müssen sie naturgemäß gewisse Eckdaten der Patienten abfragen und speichern. Als Angehörige der Gesundheitsberufe dürfen sie bald aber auch auf Patientendaten aus dem EU-Ausland zugreifen. Darüber hinaus können Nutzer aus dem In- und Ausland freiwillig weitere Informationen an Gesundheitsdienstleister übermitteln, also auch an Apotheken. Das erscheint im Sinne einer sicheren Patientenversorgung auch durchaus sinnvoll zu sein.
Allerdings bedeutet das gleichzeitig: Die Offizinen werden zu Dateninhabern. Aufgrund dieser Tatsache kann es sein, dass die Datenbestände einer Apotheke künftig im Rahmen der Sekundärnutzung von Interesse sind. Folglich können Dritte bei berechtigtem Interesse den Zugang zu den Daten beantragen. Generell lagert viel interessantes Material in einer Vor-Ort-Apotheke – von E-Patientenakten und Abrechnungsdaten über Informationen aus Registern für Arzneimittel oder Medizinprodukte bis hin zu humangenetischen Daten oder klinischen Prüfdaten.
Jedoch bleiben beim Thema EHDS einige relevante Fragen für die Apotheken offen: Lassen sich die EU-Pläne mit der Schweigepflicht der Heilberufler vereinen und wie wirken sie sich langfristig auf das Vertrauensverhältnis zwischen Apotheke und Patient aus? Außerdem ist unklar, ob künftig zum Beispiel auch telemedizinische Dienste inklusive des Versands von Arzneimitteln in alle EU-Länder unter denselben Bedingungen ablaufen sollen? Auf die Diskrepanz zwischen Herkunft- und Bestimmungsland, das in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt, hatte die PZ bereits hingewiesen. Auch in Sachen Technik bleibt zu klären, ob alle digitalen Vorhaben der EU über die Telematik-Infrastruktur ablaufen können? Oder ob den Heilberuflern womöglich noch zusätzliche Kosten drohen?
Und wie steht es eigentlich um die Vertraulichkeit der Geschäftsgeheimnisse? Dürfen auch Informationen dazu auf Anfrage weitergereicht werden? Muss eine Apotheke überhaupt einwilligen, wenn die nationale Zugangsstelle Daten im Rahmen der Sekundärnutzung weiterleiten möchte? Auf jeden Fall ist derzeit geplant, dass die Zugangsstellen zunächst Klardaten erhalten, die dann erst dort anonymisiert beziehungsweise pseudonymisiert werden. Übrigens besteht gegenüber Patienten bei der Sekundärnutzung keine Informationspflicht. Wie strafrechtliche Sanktionen für die Mitgliedstaaten bei Verstößen im Detail aussehen sollen, bleibt ebenfalls noch abzuwarten.
Die Strategie der EU, in Sachen Digitalisierung eine Harmonisierung anzustreben, ist nicht neu. Doch sie richtet ihren Fokus allem Anschein nach deutlich stärker auf den Binnenmarkt als auf die Gesundheit. Etwas Ähnliches plant die Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag ist nämlich von einem Gesundheitsdatennutzungsgesetz die Rede, das »zur besseren wissenschaftlichen Nutzung in Einklang mit der DSGVO« dienen und eine »dezentrale Forschungsdateninfrastruktur« aufbauen soll.
Die EU will sich offenbar mehr Kompetenzen im Gesundheitswesen einräumen. Die Frage wird jetzt sein, wie stark die Mitgliedsaaten, ihren Spielraum nutzen und wie sehr sie mitgestalten wollen. Allerdings ist nun erst einmal zu erwarten, dass das sowohl das EU-Parlament als auch der EU-Rat noch einige Veränderungen in den Vorschlag der Kommission einbringen wollen.