Apothekertag 1997
ABDA-Präsident Hans-Günter Friese stellte seinen mit langanhaltendem
Beifall erwiederten Lagebericht zum 49. Deutschen Apothekertag unter das
Leitthema "In die Zukunft investieren". "Wir müssen als Pharmazeuten
möglichst viele unserer heute verfügbaren Ressourcen in die eigene Zukunft
und die Zukunft unserer Gesellschaft investieren", bekräftigte Friese.
Der ABDA-Präsident wies auf einen Paradigmenwechsel hin. Die pharmazeutische
Verantwortung habe sich von der Produktqualität des Arzneimittels zu einer Einsatz-
und Anwendungsqualität weiterentwickelt. Der eigentliche Umdenkprozeß bestehe
darin, daß die Gesellschaft diese Einsatz- und Anwendungsqualität von Arzneimitteln als
fundamentales Problem auch unter ökonomischen Gesichtspunkten aufgegriffen und
begriffen habe.
Unbestritten sei, daß viele Millionen Male im Jahr die Einsatz- und Anwendungsqualität
von Arzneimitteln in Deutschland verbessert werden könnte. Die Bevölkerung erwarte
von den Heilberuflern umfassende Problemlösungen. Dieser Herausforderung werde
sich der Berufsstand stellen. In der Praxis würde nur in jedem zweiten Fall das
Arzneimittel richtig angewandt. Das heißt, ein Therapieerfolg stellt sich nur mit einer
Wahrscheinlichkeit von 45 Prozent ein. "Eine erschreckend niedrige Zahl", so Friese.
Der Patient sei demnach der Unsicherheitsfaktor Nummer 1 in der Medikation.
Eine moderne Gesellschaft wird nach Frieses Auffassung nicht bereit sein, das heutige
Ausgabenvolumen für eine derart niedrige Therapieerfolgswahrscheinlichkeit
aufzuwenden. Das sei kein deutsches, sondern ein internationales Phänomen. Die
Gesundheitspolitik werde deshalb immer mehr die Qualitätssicherung und die Erhöhung
der Therapieerfolgsquote zur zentralen Aufgabe der Heilberufler machen. Das sei der
neue Paradigmenwechsel, der Umdenkprozeß, der das Berufsbild des Apothekers
verändern werde. Hier gebe es finanzielle Einsparpotentiale, die mehr brächten als das
"zitronenhafte Auspressen der Festbeträge".
Wichtigster Ansatzpunkt sei die Verbesserung der Patientencompliance, die zu einer
Reduktion der Morbidität und des Mortalitätsrisikos führen werde. Die Compliance
aber könne nur in einem auf den konkreten Einzelfall maßgeschneiderten Dialog
verbessert werden: "One-for-all-Lösungen, Blaupausen und Gesprächsschablonen
funktionieren nicht". Schließlich wird die Gesellschaft aufgrund des Umdenkprozesses
künftig die Apotheker für Non-Compliance mit zur Verantwortung ziehen, ist Friese
überzeugt. "Wir werden dabei die Erfahrung machen, daß Qualität mit Qual - sich um
den Patienten bemühen - zusammenhängt".
Die zweite fundamentale Ursache mangelnder Einsatzqualitäten von Arzneimitteln liegt in
der asymmetrischen Information der Heilberufler über die Medikation des Patienten, so
der ABDA-Präsident. Der Hausarzt kenne nicht die Medikation des Spezialisten und
umgekehrt. Und beide kennen nicht die Selbstmedikation. Daraus folgt: eine nicht
synchronisierte Medikation ist stets ein potentieller Einsatz- und Anwendungsfehler. Die
einzige mögliche Lösung dieses Problems sei das Kommunikationsdreieck
Arzt-Patient-Apotheker. Darüber hinaus würden die Gesellschaft und damit auch die
Apotheker von den neuen Informationstechnologien und Daten gezwungen, diese zur
Intensivierung der heilberuflichen Kommunikation zu nutzen.
Als weiteres Problem sprach Friese an, daß sich die Schere zwischen Lebenserwartung
und beschwerdefreier Lebenserwartung in den vergangenen Dekaden geöffnet habe.
Für das Jahr 2039 werden in Deutschland 2,4 Millionen Schwerstpflegefälle
prognostiziert - mit der Folge gigantischer, volkswirtschaftlich nur schwer zu
verkraftender Kosten. Auch deshalb müsse das Leistungspaket
"Arzneimittelversorgung" konsequent zu einem umfassenden pharmazeutischen
Betreuungspaket und einer heilberuflichen Allianz für den Patienten geschnürt werden.
Friese zog ein Zwischenfazit: Zu jeder Zeit kann und muß die Arzneimittelversorgung
nicht mehr und nicht weniger als das Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Gegebenheiten
sein. Gesellschaftlicher Wandel bedeutet daher auch Wandel in der
Arzneimittelversorgung und Änderungen im Berufsbild und der Berufsausübung. "Wir
wollen und werden keine Blockierer oder passive Mitläufer, sondern aktiven Gestalter
in allen Fragen der Arzneimittelversorgung sein. Wir fühlen uns fit für das Jahr 2000 und
danach."
Friese wies aber auch auf die besonderen Risiken hin, die sich im Gesundheitswesen im
Verbund mit einer zunehmenden und politisch geförderten Singularisierung der
Interessen - in einer "Gesellschaft der Ichlinge" - ergeben.
Hintergrund: trotz geringerer Ausgaben verzeichnen die Krankenkassen
arbeitsmarktbedingt geringere Einnahmen und damit ein höheres Defizit. Die Politik
habe darauf reagiert und die beiden GKV-Neuordnungsgesetze erlassen. Insbesondere
die in § 73 a SGB V vorgesehenen Strukturverträge bergen Gefahren für die
Versorgung. Die neue bilaterale Vertragsfreiheit werde von Ärzten und Kassen genau
so benutzt, wie wir es befürchtet und prognostiziert haben, erklärte Friese mit dem
Hinweis auf die in Berlin, Brandenburg und Hessen abgeschlossenen "Bonusverträge".
Aus dem harmlosen Slogan "Vorfahrt für die Selbstverwaltung" sei die knallharte
Formel "Minderverordnung gleich Mehrhonorar" geworden. Der Weg in die
"Gesellschaft der Ichlinge" sei gesetzlich legitimiert. Die bilateralen Strukturverträge
heben den mehr als 750 Jahre gültigen Grundsatz auf, wonach der Arzt weder mittelbar
noch unmittelbar am Arzneimittel verdienen soll.
Weitere Gefahrenmomente sieht Friese in der Forderung nach dem Wegfall der
Apothekenpflicht, der Freigabe der Arzneimittelpreise, der Ermöglichung von
Versandhandel und Kettenapotheken. Fremd- und Mehrbesitzverbot, Apothekenpflicht
und Preisbindung von Arzneimitteln seien keine "benefits" für die Offizinapotheker. Mit
ihnen gehen vielmehr zahlreiche Verpflichtungen, Einschränkungen und Auflagen einher,
die die Apotheker dem Gesamtwohl verpflichten. Ohne diese Regulative gebe es auf
dem deutschen Arzneimittelmarkt rüde Hardsellingmethoden wie im
Konsumgütereinzelhandel.
Unwirsch zeigte sich der ABDA-Präsident gegenüber unkalkulierbaren Vorstellungen
deutscher und anderer Gesundheitsökonomen und amerikanischen
Gesundheitsmanagern, die das bewährte deutsche System mit amerikanischen
Methoden beglücken wollen. Er rief dazu auf, deren Strategie einer ausschließlichen
Gewinnmaximierung zu entlarven. Wie wichtig und wertvoll das deutsche
Gesundheitssystem unseren Bürgerinnen und Bürgern ist, zeige sich daran, daß fast alle
der 40 Millionen Einwohner, die pro Jahr ins Ausland reisen eine
Reisekrankenversicherung abschließen, deren wichtiges Leistungsmerkmal der
Rücktransport ins deutsche Gesundheitswesen ist.
Der Blick nach vorn
Friese richtete den Blick nach vorn. Die Gesellschaft müsse Abstand nehmen von der
hohen Kunst des Problematisierens. Diese Neigung des Berufsstandes wie der
Deutschen allgemein lasse wertvolle Aufbruchstimmung in der Paralyse enden. Der
gesellschaftliche Paradigmenwechsel verlange jedoch nach Investitionen. "Wir müssen in
den Apotheken sowohl in Raum und Einrichtung, als auch in unsere kommunikativen
Fähigkeiten investieren, wenn wir auch weiterhin ein wesentlicher Faktor im
Gesundheitswesen bleiben wollen". Das Ziel heiße "Pharmazeutische Betreuung", die in
jeder Offizin Standard werden müsse. Er rief dazu auf, den ABDA-Gedanken weiter
auszubauen. "Wir haben den Anspruch, alle Apothekerinnen und Apotheker zu
vertreten, egal ob sie in Offizinen, im Krankenhaus, in der Industrie, Wissenschaft und
Forschung oder Verbänden tätig sind".
Nach dem ersten dreiviertel Jahr seiner Amtszeit ist Friese davon überzeugt: die
ABDA-Geschäftsstelle ist gut gerüstet. Mit Dank an das Team nach Eschborn gerichtet:
Hochmotivierte Köpfe meistern die Aufgaben absolut professionell, ideenreich und in
höchstem Maße engagiert. Neben der Einbeziehung des beruflichen Nachwuchses in
die Entscheidungsprozesse sprach sich Friese auch für klare und verläßliche
Rahmenbedingungen in der Zusammenarbeit mit der Industrie aus. Gegenüber dem
Patienten sei ein unabhängiger Informationsweg nur über den Apotheker möglich - die
Industrie sei also gut beraten, wenn sie die Apotheker vollumfänglich in ihren
Informationstransfer einbezieht. Das gleiche gelte für den pharmazeutischen Großhandel
und die Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft. "Wir respektieren ohne Wenn und Aber
die Therapiehoheit des Arztes - wir wollen aber auch unsere pharmazeutische
Kompetenz durch die Ärzte akzeptiert und genutzt wissen."
Frieses Fazit: Die Pharmazie befindet sich in keiner Sackgasse. "Wir müssen aktiv
investieren - ideell wie finanziell - in Modellversuche und Projekte der Zukunft, in denen
die Leistung des Apothekers sichtbar und belegbar wird. Er, Friese, lasse nicht zu, daß
die Leistungen gegenüber Patienten und Kunden kleingeredet werden.
PZ-Artikel von Gisela Stieve, Düsseldorf
Auch rechtlich bedenklich
Kommentar
von Hartmut Morck, Chefredakteur
Daß die Bonusverträge zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den
Krankenkassen in Berlin, Brandenburg und Hessen auf den heftigen Widerstand der
Pharmazeutischen Industrie und der Apothekerschaft stoßen werden und als ethisch
nicht haltbar definiert werden müssen, haben die Meinungsbeiträge auf dem Deutschen
Apothekertag deutlich gezeigt. Die Kritik hat erfreulicherweise auch die nötige
Resonanz in den Medien gefunden. Nur der Gesundheitsminister konterte auf die
Angriffe zurückhaltender und versprach zu prüfen.
Geprüft werden sollte aus meiner Sicht allerdings auch ein anderer Punkt, der in der
Diskussion auf dem Apothekertag noch keine Rolle spielte. Nach wie vor wird die
Gesetzliche Krankenversicherung als ein soziales System definiert, das auf Solidarität -
sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite - gegründet ist. Wenn dem
wirklich so ist und politisch auch beabsichtigt ist, es dabei zu belassen, dann ist sicher
die Frage gestattet, ob Einsparungen im System nicht auch der Solidargemeinschaft
zukommen, sprich, zu Beitragssenkungen führen müssen? Meine Antwort ist ein klares
Ja.
Das heißt, auch Einsparungen bei den Arzneimitteln müssen zu Beitragssenkungen
führen und dürfen nicht zwischen Ärzten und Krankenkassen aufgeteilt werden.
Bonusregelungen wie in Berlin, Brandenburg und Hessen sind aus meiner Sicht deshalb
ein weiterer Schritt - nach der Einführung der hohen Zuzahlungen - zur
Entsolidarisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung und damit rechtlich zumindest
bedenklich.
Wie kann dagegen vorgegangen werden und vor allem: Wer kann das tun? Da die
gesetzlichen Krankenversicherungen aus den Beiträgen der Versicherten finanziert
werden, die zur Hälfte die Arbeitnehmer und zur anderen Hälfte die Arbeitgeber zahlen,
können auch nur diese gegen Bonusregelungen vor einem Sozialgericht klagen, um die
Rechtmäßigkeit solcher Vereinbarungen prüfen zu lassen. Das wird allerdings ein
steiniger Weg sein, denn ein solcher Prozeß würde voraussichtlich erst nach Jahren mit
einem höchstrichterlichen Spruch vor dem Bundessozialgericht abgeschlossen werden.
Wie der ausfallen wird, kann heute mit Sicherheit nicht vorausgesagt werden. Ein
schnellerer Weg wäre deshalb, daß das Gesundheitsministerium sich gegen diese
Verträge ausspricht, wenn der Bundesminister der gleichen Meinung ist wie ich. Das
muß nach Düsseldorf zumindest bezweifelt werden.


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