| Lukas Brockfeld |
| 09.12.2025 16:00 Uhr |
Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, kritisiert die hohen Arzneimittelpreise. / © Imago/IPON
Die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) steigen seit Jahren stark an und die Bundesregierung sucht händeringend nach Möglichkeiten, den Anstieg der Beitragssätze zu bremsen. 2024 hat die GKV 59,3 Milliarden Euro für Arzneimittel ausgegeben, das war der zweitgrößte Ausgabenposten der GKV und ein Anstieg von 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Am Dienstag hat die AOK ihren »Arzneimittel-Kompass 2025« vorgestellt. In diesem wollen die Ortskassen »Wege zu fairen Lösungen« der Preisproblematik aufzeigen. »Seit 2011 sind die Arzneimittelausgaben um 125 Prozent gestiegen. 2011 ist deshalb spannend, weil es das Jahr ist, in dem das AMNOG eingeführt wurde«, sagte Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, bei der Vorstellung des Berichtes. Das AMNOG-Verfahren, das die Ausgaben eigentlich bremsen sollte, wurde laut Reimann durch zu viele Anpassungen geschwächt und werde oft von der Pharmaindustrie umgangen.
Reimann erklärte, dass inzwischen 54 Prozent der Arzneimittelkosten auf patentgeschützte Produkte entfallen. Oft seien diese Produkte sehr teuer und hätten einen nur unzureichend belegten Zusatznutzen. »Der in Deutschland bestehende Regulierungsrahmen ist für die Kombination von unzureichender Evidenz und überhöhten Preisen nicht eingerichtet. Erst recht nicht darauf, dass die pharmazeutischen Unternehmen zunehmend Umgehungsstrategien verfolgen, mit denen sie den Zusatznutzen nicht nachweisen müssen, aber dennoch extrem hohe Preise verlangen können«, so Reimann.
Die AOK-Bundesverbandsvorsitzende präsentierte am Dienstag auch einen Lösungsvorschlag: »Arzneimittel mit unsicherer Evidenz sollten künftig ausschließlich in qualifizierten Zentren für Fälle mit hohem medizinischen Bedarf eingesetzt werden. Die Erstattung sollte an eine weitere Evidenzgenerierung gekoppelt werden.«
Auch für die künftige Preisgestaltung hat die AOK eine Forderung: »Wir schlagen einen Interimspreis ab Marktzugang vor, der sich an der Höhe der zweckmäßigen Vergleichstherapie orientiert und als vorläufige Vergleichsgröße dient. Wenn der Interimspreis dann mit dem ausgehandelten Erstattungspreis rückabgewickelt wird, trägt das auch dem Anliegen der pharmazeutischen Hersteller nach angemessenen Preisen Rechnung.«
Claudia Wild vom »Austrian Institute for Health Technology Assessment« erklärte am Dienstag, dass die Entwicklung neuer Arzneimittel oft doppelt von der Allgemeinheit finanziert werde. Einmal über die durch Steuermittel finanzierte Forschungsförderung und zudem über die Kosten für Arzneimittel selbst. Die Idee, dass Pharmaunternehmen riesige Summen in die Entwicklung neuer Medikamente steckten und daher sehr hohe Preise verlangen müssen, bezeichnete Wild als »Mythos«.
Die Wissenschaftlerin erläuterte, dass viele Pharmaunternehmen einen großen Teil ihrer Produkte nicht selbst entwickeln, sondern diese von öffentlichen Institutionen erwerben, sie gemeinsam mit diesen entwickeln oder sie lizensieren. »Wir müssen das Narrativ hinterfragen, dass nur die privaten Unternehmen Innovatoren sind. Die öffentliche Hand kann genauso als Innovator auftreten. Die Komplementarität der Sektoren muss anerkannt werden. Die öffentliche Hand bildet die Infrastruktur und die regulatorische Struktur, damit die Privatwirtschaft florieren kann. Diese Komplementarität darf nicht durch unfaire Preise aus der Balance geraten«, mahnte Claudia Wild.
Auch Helmut Schröder, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), betonte, dass viele der neuen und teuren Arzneimittel laut den AMNOG-Daten keinen belegten Zusatznutzen hätten. Das sei eine »Entkoppelung« von Preisen und therapeutischem Nutzen. Um das AMNOG-Verfahren zu umgehen, greife die Industrie auf eine Strategie der »Orphanisierung« zurück. Dabei konzentrieren sich Hersteller zunehmend auf Arzneimittel für seltene Erkrankungen, da bei diesen Erkrankungen bis zu einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro (bis Ende 2022: 50 Millionen Euro) kein Nutzennachweis erfolgen muss.
2024 gab es nach Angaben der AOK 42 Neueinführungen, darunter 24 Orphan-Arzneimittel. Insgesamt machten Orphan-Arzneimittel demnach einen Versorgungsanteil von weniger als einem Promille und einen Kostenanteil von knapp 14 Prozent an den Gesamtkosten aus. »Auch dies führt dazu, dass in der Folge immer mehr Geld für immer weniger Versorgung ausgegeben wird«, so Schröder. Das AMNOG-Verfahren müsse daher dringend reformiert werden.
Schröder sprach sich für ein neues System der Preisgestaltung aus und stellte den in Rotterdam entwickelten »AIM Fair Price Calculator« vor. Dieser soll mithilfe eines Algorithmus, der unter anderem Entwicklungs- und Vertriebskosten berücksichtigt, einen fairen Preis für ein neues Arzneimittel berechnen. »Natürlich wird die pharmazeutische Industrie das nicht quotieren. Aber wir brauchen einen Gamechanger für ein modernes Preissystem, das echte Innovationen honoriert, die Risiken reduziert und die finanzielle Tragfähigkeit unseres solidarischen Gesundheitssystems berücksichtigt«, sagte der WIdO-Geschäftsführer.