»Angebot in Apotheken ermöglicht Integration in den Alltag« |
Aus Sicht von Georg Zwenke, Geschäftsführer des Hamburger Apothekervereins, leisten die Apotheken beim Sichtbezug »sehr gute Arbeit«. Ziel sei es, die Patienten so zu stabilisieren, dass sie ihren Alltag gut meisten könnten. / © PZ/Daniela Hüttemann
PZ: Bisher ist die Versorgung von Opioidabhängigen in Form der Sichtvergabe in Apotheken eher ein Nischenthema. Wird sich dies durch den neuen Vertrag zwischen dem HAV und der AOK Rheinland/Hamburg zum Sichtbezug ändern?
Zwenke: In Hamburg versorgen bisher viele Apotheken Substitutionspatienten im Wege der Sichtvergabe. Wirtschaftlich auskömmlich ist dieses freiwillige Engagement unserer Mitglieder jedoch nicht. Angesichts der vielfach äußerst schwierigen finanziellen Situation der Apotheken drohte diese Versorgung, die nichts zum Betriebsergebnis beiträgt, aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt zu werden. Wir erwarten daher durch die mit der AOK Rheinland/Hamburg geschlossene »Vereinbarung über Regelung für die Abrechnung des Sichtbezuges in Apotheken«, die die Regelungen der zwischen Deutschem Apothekerverband und GKV-Spitzenverband geschlossenen Mustervereinbarung übernimmt, eine gewisse Stabilisierung dieser Versorgung durch die Vor-Ort-Apotheken.
PZ: Welche Vorteile hat es für die Patienten, wenn sie die Substitutionsmittel in einer Apotheke erhalten können?
Zwenke: Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden, kommen aus allen Bereichen unserer Gesellschaft, so wie andere Erkrankte auch. Sie haben gegen ihre Krankenversicherung Anspruch auf Versorgung mit Arzneimitteln. Hierzu gehören im Bedarfsfall auch Betäubungsmittel als Substitutionsmittel. Die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln ist die ureigene Aufgabe der Vor-Ort-Apotheken. In Apotheken gibt eingewiesenes pharmazeutisches Personal ganz niedrigschwellig Substitutionsmittel im Wege der Sichtvergabe an Suchterkrankte ab, die diese dort kontrolliert einnehmen.
Für Suchtpatienten bedeutet dieses Leistungsangebot eine Integration in die »Alltagsnormalität«: Sie suchen wie alle anderen Patienten und Kunden ihre in der Nähe liegende Apotheke auf und erhalten dort das ganze Spektrum pharmazeutischer Leistungen angeboten – einschließlich der Sichtvergabe. Sie können durch diese Leistung ihrer Apotheke einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
Dieses Leistungsangebot belegt einmal mehr, wie unverzichtbar die Vor-Ort-Apotheken sind. Mit der Sichtvergabe von Substitutionsmitteln haben diese Apotheken bisher unvergütet soziale Verantwortung mitgetragen und einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft geleistet. Damit dieses wichtige Leistungsangebot auch in dieser für viele Apotheken wirtschaftlich stark herausfordernden Zeit aufrechterhalten werden konnte und kann, war eine Honorierung dringend notwendig. Da die Sichtvergabe auch in den Substitutionsambulanzen von substituierenden Vertragsärzten erfolgt, orientiert sich die Honorierung der Apotheken an der bereits seit Jahren erfolgenden Vergütung der Vertragsärzte.
PZ: Die Regelungen gelten bisher nur für Menschen, die bei der AOK Rheinland/Hamburg versichert sind. Gibt es bereits Verhandlungen mit weiteren Kassen? Können Sie sich eine entsprechende Vereinbarung auch in Schleswig-Holstein vorstellen?
Zwenke: Selbstverständlich. Wir stehen hierzu gerade in erfolgversprechenden Gesprächen mit der AOK NordWest. Die mit der AOK Rheinland/Hamburg geschlossene Vereinbarung sieht ausdrücklich eine Beitrittsmöglichkeit aller gesetzlichen Krankenkassen vor. Hierzu möchten wir sie auch auf diesem Weg herzlich einladen. Denn alle Krankenkassen haben suchterkrankte Versicherte.
Inwieweit kann es für Apotheken attraktiv sein, Sichtbezug anzubieten?
Zwenke: Suchtmedizinisch tätige Ärzte wollen die Sichtvergabe in der Praxis oftmals nicht anbieten. Folglich besteht ein entsprechender Versorgungsbedarf bei deren Suchtpatienten. Vor-Ort-Apotheken können sich noch stärker als unverzichtbarer Leistungserbringer im Gesundheitswesen positionieren, wenn sie auch diese Kunden versorgen. Der suchterkrankte Kunde, der in »seiner« Apotheke die Leistung »Sichtvergabe« erhält, wird Stammkunde dieser Apotheke sein und bleiben. Die Patienten bringen dem Personal, das die Sichtvergabe durchführt, oft große Dankbarkeit entgegen.
Die derzeitige Vergütung der Sichtvergabe bringt betriebswirtschaftlich oft nicht den Ertrag, der bei einer erbrachten qualifizierten pharmazeutischen Leistung zu erwarten wäre. Die neue Honorierung ist ein erster Schritt in die Richtung, dass, wie auch sonst im Wirtschaftsleben, alle angeforderten und in Anspruch genommenen Leistungen zu vergüten sind.
Die Durchführung des Sichtbezugs ist eine freiwillige Leistung der Apotheke, einen Kontrahierungszwang gibt es nicht. Wenn Inhaber beispielsweise aus ökonomischen oder personellen Gründen die Sichtvergabe nicht anbieten möchten, müssen sie dies auch nicht tun.
PZ: Welche Herausforderungen bringt die Sichtvergabe mit sich?
Zwenke: Es empfiehlt sich, zum substituierenden Arzt einen regelmäßigen, kollegialen Kontakt zu pflegen. Darüber hinaus ist beim Sichtbezug die Dokumentation zeitaufwändig, die konsequent durchgeführt werden sollte. Was alles zu dokumentieren ist, ist in der Leitlinie der Bundesapothekerkammer zur Qualitätssicherung »Herstellung und Abgabe der Betäubungsmittel zur Opiodsubstitution« detailliert beschrieben.
PZ: Was ist beim Umgang mit den Patienten zu beachten?
Zwenke: Der Umgang mit suchterkrankten Patienten kann sich von der Versorgung zahlreicher anderer Patienten und Kunden der Apotheke unterscheiden, muss es aber auch nicht. Es kann vorkommen, dass sozial schwache und psychisch labile Menschen die Sichtvergabe erhalten, die einen freundlich-konsequenten und geradlinigen Umgang benötigen.
Vor Durchführung der Sichtvergabe ist der Allgemeinzustand des Patienten zu prüfen. Das kann die Mitarbeitenden mitunter vor Herausforderungen stellen. Hier kann es auch einmal zu verbalen Konflikten kommen.
Für den Fall, dass die Sichtvergabe eines Patienten für das Apothekenpersonal nicht mehr tragbar sein sollte, haben wir in unserer Vereinbarung eine Regelung aufgenommen, dass die Apotheke den einzelnen Suchtpatienten von der Durchführung des Sichtbezugs ausschließen kann, wenn er den Betriebsablauf stören sollte. Die Apotheke nimmt dann den Auftrag des substituierenden Vertragsarztes zur Durchführung des Sichtbezuges schlicht nicht an. In der Praxis entscheidet die Apothekenleitung je nach Patientenstruktur, wann, wie und wo in der Offizin die Sichtvergabe durchgeführt wird.
Nach Angaben der Bundesärztekammer nehmen von den geschätzten rund 166.000 Opioidabhängigen in Deutschland etwa 81.000 an einer substitutionsgestützten Behandlung teil. Die Substitutionsbehandlung der Opiatabhängigkeit erfolgt mit gesetzes- und richtlinienkonform zu verordnenden Medikamenten. Hierbei werden Opioide, vor allem Methadon, L-Polamidon, Buprenorphin, im Rahmen eines Therapiekonzeptes zur medizinischen Behandlung einer Abhängigkeit, die durch den Missbrauch von erlaubt erworbenen oder unerlaubt erworbenen oder erlangten Opioiden begründet ist, ersetzt.
Beim Sichtbezug in der Apotheke werden Patienten im Rahmen der Substitutionstherapie Opioidabhängiger Betäubungsmittel nach Abgabe zum unmittelbaren Verbrauch noch in der Apotheke überlassen. Voraussetzung dafür ist, dass zwischen dem die Substitutionstherapie durchführenden Arzt und der den Sichtbezug durchführenden Apotheke eine nach Vorgaben des § 5 Absatz 9 zu schließende Vereinbarung geschlossen wird. Aus dieser Vereinbarung muss dann unter anderem auch hervorgehen, dass der substituierende Vertragsarzt kein Honorar für den Sichtbezug, der in der Apotheke erfolgt, geltend machen wird.