Alternative zu Cortison am Horizont |
Sven Siebenand |
08.05.2024 12:00 Uhr |
Ein Hörsturz tritt meist plötzlich und ohne erkennbare Gründe auf. Bei vielen Patienten ist nur ein Ohr betroffen. Die medikamentösen Optionen sind sehr überschaubar. Meist kommen Glucocorticoide zum Einsatz. Ein neues Wirkkonzept weist AC-102 auf. / Foto: Adobe Stock/Zerbor
Sinneszellen im Innenohr, die sogenannten Haarzellen, wirken als Schallverstärker. Sie leiten Schallsignale über den Hörnerv ins zentrale Nervensystem weiter. Sterben diese Zellen ab und verlieren sie ihre synaptischen Verbindungen, ist dies die häufigste Ursache für einen Hörsturz. Der Hörverlust tritt meist plötzlich und ohne erkennbare Gründe auf. Bei vielen Patienten ist nur ein Ohr betroffen und typisch sind Begleiterscheinungen wie Tinnitus und Schwindel.
Bei einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie betonte Professor Dr. Stefan Plontke von der Universitätsmedizin Halle, dass es weltweit keine bei Hörsturz zugelassenen Wirkstoffe gibt. Die Standardtherapie seien Glucocorticoide. »Obwohl diese Medikamente seit 50 Jahren weltweit in der Hörsturz-Erstbehandlung zum Einsatz kommen, gibt es keinen belastbaren wissenschaftlichen Beweis, ob die Therapie mit Glucocorticoiden wirksam, unwirksam oder schlechter als ein Placebo ist.«
Der Mediziner ging auch auf die Ende 2023 in »NEJM Evidence« publizierten Daten einer Studie ein. Diese zeigen, dass eine Hochdosis-Corticoid-Therapie bei Hörsturz nicht mehr hilft als eine Standardtherapie, aber mit mehr Nebenwirkungen verbunden ist und bei einigen sekundären Endpunkten, etwa Hörgeräuschen, der Standard-Corticoid-Therapie unterlegen ist. Plontke: »Eine Hochdosis-Corticoid-Therapie erscheint damit nicht mehr gerechtfertigt.« Zudem würde die Studie die Frage aufwerfen, ob die bisherige Standardtherapie selbst überhaupt wirksam ist. Das müsste nun in weiteren Studien untersucht werden.
Plontke betonte, dass es für die Therapie des Hörsturzes einen Bedarf an weiteren Therapieoptionen gibt und informierte in Zuge dessen über den Wirkstoffkandidaten AC-102 von der Firma Audiocure. Anfang April wurden Tierversuchsdaten in »Proceedings of the National Academy of Sciences« publiziert. Dort heißt es, dass AC-102 in einem Meerschweinchenmodell für lärmbedingten Hörverlust zeigen konnte, dass es den Hörverlust auf ein nahezu normales Niveau zurückführt.
In diesem Modell habe der Wirkstoff seine therapeutische Wirkung durch den gleichzeitigen Schutz von Sinneshaarzellen und neuronalen Verbindungen im Innenohr, die für eine normale Hörfunktion entscheidend sind, erzielen können. In-vitro-Experimente an einem Modell zur Schädigung von Nervenzellen hätten gezeigt, dass AC-102 die Zellen vor Apoptose schützte. Eine erhöhte Produktion von Adenosintriphosphat (ATP) und geringerer Gehalt an reaktiven Sauerstoffspezies könnten hierfür die Ursache sein.
AC-102 ist als Gel formuliert, wodurch die Wirksamkeit lokal im Mittelohr maximiert und gleichzeitig die Nebenwirkungen minimiert werden. Eine einzige Anwendung von AC-102 soll laut Hersteller ausreichend sein.
Phase-I-Daten haben gezeigt, dass AC-102 bei direkter Verabreichung ins Mittelohr gesunder Probanden sowohl sicher als auch gut verträglich war. Plontke informierte, dass derzeit eine Phase-II-Studie läuft. Laut Audiocure nehmen etwa 200 Patienten mit mittelschwerem bis schwerem idiopathischen Hörsturz teil. Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit des Wirkstoffs werden in der Studie mit einer Standardbehandlung mit oralen Glucocorticoiden verglichen. Diese Phase-II-Studie soll bis Ende 2024 laufen. Dann könnte Phase III in Angriff genommen werden. Bis AC-102 also möglicherweise zugelassen wird, wird es noch einige Zeit dauern.