Alles andere als ein Bärendienst |
Sven Siebenand |
20.04.2023 09:00 Uhr |
Eine Hälfte des Jahres sind Braunbären körperlich aktiv und fressen sich große Fettreserven an. Während der anderen Hälfte des Jahres ruhen sie meist und bewegen sich nicht. Eine Thrombose entwickeln sie dabei nicht. / Foto: Adobe Stock/krinkog
Wochenlange Bettlägerigkeit beziehungsweise Immobilität ist einer der größten Risikofaktoren für eine venöse Thromboembolie. Da fragt man sich, warum das zum Beispiel bei Bären im Winterschlaf nicht der Fall ist. Und warum auch querschnittsgelähmte Menschen nach der Akutphase der Verletzung kein erhöhtes Thromboserisiko aufweisen.
Im Fachjournal »Science« hat ein Team um Erstautorin Dr. Manuela Thienel von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München nun einen Lösungsansatz präsentiert. Darauf nimmt die Hochschule in einer Pressemitteilung Bezug. Auf die richtige Fährte führte ein Braunbärprojekt in Skandinavien. In Schweden wird eine Schar von Braunbären seit mehreren Jahren wissenschaftlich untersucht. Die Tiere tragen einen GPS-Sender, mit dem Forscher sie orten können. Für die aktuelle Arbeit wurden die Tiere einmal im Sommer und einmal Winter lokalisiert, um ihnen Blut abzunehmen. Die Blutproben wurden anschließend analysiert. Dabei hat man vor allem das Gerinnungssystem unter die Lupe genommen und geschaut, ob es im plasmatischen Gerinnungssystem, das normalerweise bei der Entwicklung venöser Thrombosen eine entscheidende Rolle spielt, einen bedeutenden Unterschied zwischen Sommer- und Winterzeit gibt. »Doch da haben wir keinen dramatischen relevanten Unterschied gefunden«, so Thienel in einer Mitteilung der Universität.
Allerdings fand man bei den Untersuchungen etwas anderes: Wie Seniorautor Privatdozent Dr. Tobias Petzold, ebenfalls LMU, mitteilt, wird im winterschlafenden Braunbärenkörper die Interaktion zwischen Blutplättchen und Entzündungszellen des Immunsystems gebremst. Das erkläre das Ausbleiben der venösen Thrombose. Genau die gleichen Mechanismen wiesen die Wissenschaftler dann bei querschnittsgelähmten Patienten nach – und bei gesunden Probanden, die sich im Rahmen eines Versuchs von Raumfahrtbehörden drei Wochen lang ins Bett gelegt hatten.
Was ist die genaue molekulare Ursache? Mittels Massenspektroskopie-basierter Proteomik wurden bei weiteren Arbeiten mehr als 2500 aktive Proteine in den Blutplättchen der Bären quantifiziert. Das Ergebnis: In Winterruhe wurden gegenüber der Sommeraktivität 71 Proteine hoch- und 80 herunterreguliert. Den größten Unterschied fand man beim Hitzeschockprotein 47 (HSP47), das bei überwinternden Bären um das 55-Fache herunterreguliert war. Zudem konnten die Forscher zeigen, dass HSP47 unter Langzeit-Immobilisation in verschiedenen Säugern herunterreguliert wird, unter anderem auch beim Menschen, und die Absenkung somit offenbar ein evolutionär konservierter Mechanismus zur Thromboseprävention ist.
Petzold zufolge ist HSP47 allein in der Lage, Entzündungszellen zu aktivieren. Durch geringe HSP47-Proteinlevel reduziert sich die Interaktion von Thrombozyten und Entzündungszellen. Gelingt es also, HSP47 mit einem passenden Molekül bei immobilisierten Akutpatienten zu blockieren, ließe sich womöglich das Risiko einer venösen Thrombose reduzieren. Zwar gibt es für Laborexperimente bereits kleine Moleküle, die HSP47 ausschalten. Doch für einen möglichen Einsatz am Menschen eignen sie sich nicht. »Deshalb wollen wir jetzt selbst nach entsprechend geeigneten Substanzen suchen«, sagt Petzold. Weitere Untersuchungen gelte es noch abzuwarten, bevor man sich über eine neue Wirkstoffklasse freut.