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Pflegemorde: Was haben Krankenhäuser daraus gelernt?

 

Mehr als 100 Patienten soll Niels Högel, so sind die Ermittler sicher, als Krankenpfleger zwischen 2000 und 2005 getötet haben: erst im Uniklinikum Oldenburg, dann im Josef-Hospital in Delmenhorst. Der heute 41-Jährige sitzt nun lebenslang im Gefängnis. Die Aufklärung der Mordserie kommt aber nur zögerlich voran. Der größte Prozess, in dem es um 97 Tote geht, soll erst im Herbst starten. «Das eine ist der Mordprozess gegen den Täter. Das andere ist die Frage, wie kann das in einem Krankenhaus passieren?», sagt Christian Marbach, Enkel eines der Opfer, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. Und wie lassen sich solche Mordserien in Zukunft verhindern?

Wenn man die Aussagen früherer Kollegen Högels und der Ermittler vor Gericht einbezieht, entsteht der Eindruck, dass manche in den Kliniken nicht gut hingeschaut haben. Es vielleicht auch nicht immer wollten. Obwohl Kollegen Verdacht schöpften, stoppte ihn lange niemand. Dabei lassen sich an beiden Arbeitsstellen, in Oldenburg und Delmenhorst, Hinweise finden. «Die Morde hätten verhindert werden können, wenn Verantwortliche früher reagiert hätten», sagte Oldenburgs Polizeipräsident Johann Kühme im vergangenen August, als er die Ermittlungsergebnisse vorstellte.

Doch erst im Sommer 2005 flog Högel auf: Eine Krankenschwester ertappte den Pfleger, als er einem Patienten eine Überdosis spritzte. Sogar da reagierten Vorgesetzte und Kollegen nicht sofort. Erst ein paar Tage später gingen sie zur Polizei. So konnte Högel noch einen kranken Menschen töten, wie die Ermittler heute wissen. Sechs Klinikmitarbeiter hat die Staatsanwaltschaft inzwischen wegen Tötung durch Unterlassen angeklagt. Zwei damalige Oberärzte und eine weitere Führungskraft in Delmenhorst müssen sich demnächst vor Gericht verantworten. Bei drei Pflegekräften ist noch offen, ob es zum Prozess kommt.

 

Whistleblowing und Leichenschau

Der Ärztliche Direktor des Josef-Hospitals Frank Starp, der erst nach der Mordserie an das Haus kam, spricht von einem tragischen Einzelfall, aus dem das Josef-Hospital gelernt habe. Es hat ein sogenanntes Whistleblowing-System eingeführt: Mitarbeiter können darüber anonym Auffälligkeiten melden. Außerdem untersucht ein externer Rechtsmediziner alle Patienten, die in dem Krankenhaus sterben. «Diese Maßnahmen haben vor allem abschreckenden Charakter und sind ein Sicherheitsnetz, durch das künftig sehr früh die Alarmglocken schrillen würden», sagt Starp.

Der Psychiater Professor Dr. Karl H. Beine hat sich mit vielen Mordserien an Kliniken beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben («Tatort Krankenhaus»). Die von Niels Högel hält er für international herausragend – nicht nur wegen der Opferzahl. «In den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst haben alle Kontrollmechanismen versagt. Dazu wurden die von Angehörigen gemeldeten Verdachtsfälle von der Justiz sehr schleppend bearbeitet», sagt er. Die Opferfamilien mussten oft Jahre auf die Prozesse warten, ein Großteil wartet bis heute auf Gerechtigkeit.

Die Mordserie begann nach Ansicht der Ermittler im Februar 2000. Da soll Niels Högel am Klinikum Oldenburg zum ersten Mal einen Patienten getötet haben. Auch dort ermittelt die Polizei gegen Mitarbeiter. Demnach gab es schon damals Hinweise darauf, dass ungewöhnlich viele Patienten während der Schichten von Högel starben oder wiederbelebt werden mussten. Das Klinikum versetzte den Pfleger erst auf eine andere Station. Schließlich lobte sie ihn mit einem guten Zeugnis weg. Im neuen Job in Delmenhorst konnte er weiter morden.

 

Krankes System

Für Psychiater Beine sind solche Abläufe Symptome eines kranken Systems, wie er es nennt. In Krankenhäusern sei der Arbeitsdruck so hoch, dass Ärzten die Zeit für Gespräche fehle. Schwestern hetzten von Patient zu Patient, auf Kollegen achten könnten sie nicht. Morde blieben leicht unerkannt. Zumal der Tod dort alltäglich ist. «Wenn dann Verdächtigungen da sind, ist es eindeutig so, dass Vorgesetzte beschwichtigen, dass verdeckt wird – bis dahin, dass der Betroffene versetzt oder abgefunden wird mit einem guten Arbeitszeugnis», sagt Beine. Aus wirtschaftlichen Gründen.

Wieso die Verantwortlichen in Oldenburg damals nicht die Polizei einschalteten, kann der heutige Geschäftsführer des Klinikums nicht nachvollziehen. Wegen der laufenden Ermittlungen sagt Dirk Tenzer dazu nur: «Es gab Hinweise, keine hieb- und stichfesten Beweise. Auf diese hätte man anders reagieren können, vielleicht auch müssen.» Er beauftragte, noch bevor die Sonderkommission der Polizei ihre Arbeit aufnahm, einen Gutachter, um verdächtige Fälle zu untersuchen. «Die Motivlage, warum jemand so etwas macht, ist für uns wichtig, um daraus zu lernen», sagt Tenzer. «Es gibt einige Kollegen im Haus, die sich noch heute fragen, ob sie etwas hätten erkennen können.»

Auch in Oldenburg hat man ein Whistleblowing-System eingeführt und lässt kritische Fälle in Konferenzen besprechen. «Die Kultur in deutschen Krankenhäusern hat sich in den letzten 15 Jahren geändert», erläutert Tenzer. «Wir sprechen im Klinikum Oldenburg heute offen über Fehler – und zwar vorwurfsfrei.»

 

Warnsignale für Kollegen

Gibt es Warnsignale, die darauf hindeuten, dass jemand Patienten töten könnte? «Die Täter sind häufig solche, die den Beruf ergriffen haben, um eigene Probleme zu bewältigen», erläutert Beine. «Sie wollen ihr Selbstwertgefühl aufwerten, denn Pflege- und medizinische Berufe rangieren in der Werteskala sehr weit oben. Bei ihnen ist die Enttäuschung vorprogrammiert. » Högel hatte seine wahllos ausgesucht und ihnen Antiarrhythmika gespritzt. Er hat ausgesagt, dass er es aus Langeweile tat und um vor Kollegen mit seinen Wiederbelebungskünsten zu glänzen.

Mitarbeiter müssten erkennen, wenn ein Kollege sich verändert, wenn er zynisch wird, wenn er grob über Patienten spricht, diese beschimpft oder haut. Dann müssten dieser auffällige Kollege angesprochen werden. «Mit allen Tätern inklusive Niels Högel ist wahrscheinlich nicht offen und direkt gesprochen worden», vermutet Beine.

«Im Einzelfall lassen sich Patiententötungen nur schwerlich verhindern. Man kann aber verhindern, dass aus Einzeltaten Serien werden.» Es muss ausreichend Personal da sein. In Schulungen müssen die Mitarbeiter aufgeklärt werden, dass es Morde in Krankenhäusern gibt. «Vorgesetzte und Kollegen müssen achtsamer miteinander umgehen. Gespräche und der Austausch untereinander dürfen nicht als Zeitverschwendung gelten, sondern als essenziell für die gute Behandlung von Patienten», betont Beine. Das Bundesland Niedersachsen plant zudem, Stationsapotheker verpflichtend einzusetzen, auch um den Verbrauch von Arzneimitteln schärfer zu überwachen.

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ADKA: Stationsapotheker bundesweit benötigt, Meldung vom 18.08.2017

 

08.02.2018 l PZ/dpa

Foto: Fotolia/destilla

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