Pharmazeutische Hilfe für die Ärmsten |
Laura Rudolph |
21.06.2024 07:00 Uhr |
Mitarbeiterinnen der Talapark-Klinik. Dort sorgen inzwischen auch junge Apotheker für eine sichere Arzneimittelabgabe. / Foto: Andrea Erbguth
Die westbengalische Hauptstadt Kolkata, früher als Kalkutta bezeichnet, ist geprägt von extremen Gegensätzen. Einer relativ kleinen Oberschicht und einer wachsenden Mittelschicht steht etwa ein Drittel der Bevölkerung gegenüber, das in großer Armut lebt. Seinen Anfang nahm die Unterstützung vor Ort, als der britische Arzt Dr. Jack Preger im Jahr 1972 einem Radioaufruf folgte und in Bangladesh eine Klinik für Kriegsflüchtlinge aufbaute. 1979 kam er nach Kolkata, um dort den Armen zu helfen.
Aus der anfänglich provisorischen Behandlung auf dem Gehsteig entwickelte sich durch die Hilfe vieler Unterstützer die Hilfsorganisation Calcutta Rescue. Heute betreibt sie vier Kliniken in der Stadt, in denen Menschen eine kostenlose Behandlung erhalten, wenn sie sich andernfalls keine leisten können. Schwerpunkte sind unter anderem Tuberkulose, Diabetes, HIV und AIDS, Lepra, Unterernährung, Infektionen und Behinderungen. Zudem fördert die Organisation Projekte aus dem Bereich Bildung, Landwirtschaft und Handwerk.
Die Apotheke von Calcutta Rescue wurde viele Jahre von Freiwilligen aus Deutschland und Großbritannien betrieben. Seit 2016 wird sie von dem indischen Apotheker Santanu Roy Chowdhury geleitet. Der enge Kontakt zu und auch die Mitarbeit von Volontärinnen und Volontären aus Deutschland blieb weiter bestehen. Die Coronavirus-Pandemie unterbrach jedoch die Zusammenarbeit. Erst Ende des vergangenen Jahres erhielten die indischen Kolleginnen und Kollegen seit 2019 erstmals wieder fachliche Unterstützung aus Deutschland.
Apothekerin Andrea Erbguth war zwei Monate lang im Einsatz in Indien. / Foto: Andrea Erbguth
Andrea Erbguth, Fachapothekerin für Klinische Pharmazie und Mitglied bei Calcutta Rescue Deutschland, arbeitet im Zentrum für Infektionsmedizin beim Klinikverbund »Vivantes – Netzwerk für Gesundheit« in Berlin. Im November 2023 trat sie eine zweimonatige Projektreise nach Kolkata an. »Als beim Frühjahrstreffen 2023 nach einer Apothekerin gesucht wurde, die sich vor Ort ein Bild von der Situation macht, habe ich sofort zugesagt«, berichtet Erbguth im Gespräch mit der PZ.
Die Apotheke in Kolkata hat etwa 500 Arzneimittel vorrätig. »Ein sehr großes Problem in Indien ist die weite Verbreitung von Antibiotika-Resistenzen«, erklärte die Apothekerin. Das Land weise die weltweit kritischste Situation auf. Häufig erfolge bei Infektionen aus finanziellen Gründen keine Erregerbestimmung und oftmals erhielten Patienten auch ohne Rezept ein Antibiotikum aus der Apotheke, berichtete sie. »Der Einsatz erfolgt häufig unbedacht.«
Auch eine andere Einstellung zu Medikamenten trage ihren Teil zu dieser Entwicklung bei, betonte Erbguth. »Für viele Menschen in Indien ist es gleichbedeutend mit Wohlstand und Fortschritt, wenn man es sich leisten kann, Medikamente einzunehmen«, erläuterte sie. Da die Produktion vieler Medikamente ohnehin in Indien stattfinde, sei der »reine Zugang« zu Arzneimitteln kein Problem – häufig aber der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Vor Ort überarbeitete Erbguth zunächst die Antibiotika-Leitlinien und stellte ihre Ergebnisse auf einer Online-Fortbildungsveranstaltung für die Ärztinnen und Ärzte vor.
Etwa 500 verschiedene Medikamente sind in der Apotheke vorrätig. / Foto: Andrea Erbguth
Eine weitere Schwierigkeit ist der korrekte Umgang mit Impfstoffen. »Die ordnungsgemäße Kühllagerung und der Transport der wertvollen Impfstoffe ist bereits bei uns in Deutschland eine Herausforderung. In Kolkata, wo im Sommer mehr als 40 Grad erreicht werden, gilt dies umso mehr«, gibt die Apothekerin zu bedenken. Also erstellte sie Tabellen mit Eigenschaften von Impfstoffen, Arbeitsanweisungen für den Kühltransport und schulte das Team vor Ort. Außerdem wirkte Erbguth zusammen mit einem deutschen Krankenpfleger an einem Projekt zum Wundmanagement mit, um die Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden zu verbessern.
In drei der vier zu Calcutta Rescue gehörenden Kliniken, der Talapark-, Nimtala- und Tangra-Klinik, sorgen mittlerweile drei junge indische Apotheker für eine sichere Arzneimittelabgabe. Erbguth unterstützte sie, indem sie Listen mit Einnahmehinweisen, Interaktionen und Nebenwirkungen erstellte. »Entsprechende Datenbanken, wie sie in Deutschland üblich sind, stehen in Indien noch in den Anfängen.«
Arzneimitteltüten mit symbolischen Einnahmehinweisen. / Foto: Andrea Erbguth
Problematisch sei zudem, dass viele Menschen in Kolkata weder lesen noch schreiben könnten – eine immense Herausforderung für die Arzneimitteltherapiesicherheit. Ihre Medikamente erhielten die Patienten üblicherweise als Unit-Dose-Einheit. Einen Beipackzettel gebe es nicht, informierte Erbgut, dafür seien die Behältnisse mit Symbolen für Einnahmehinweise versehen.
»Insgesamt habe ich den Eindruck, dass Calcutta Rescue in den letzten Jahren viel erreicht hat und immer professioneller wird«, berichtete die Apothekerin. Beispielsweise gelang es mit der Unterstützung aus dem Vereinigten Königreich, eine elektronische Patientenkurve einzuführen sowie ein Programm zum Screening auf Gebärmutterhalskrebs zu beginnen. Ein wichtiges Ziel für die nahe Zukunft sei die verbesserte Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden.
Calcutta Rescue bietet bedürftigen Menschen auch Impfungen an. / Foto: Andrea Erbguth
Die Umstände, die das Leben der Armen in Kolkata prägen, haben Erbguth nach eigenen Angaben tief berührt. Dennoch kam sie auch mit vielen positiven Eindrücken nach Hause: »Insbesondere das Engagement der Menschen vor Ort hat mich unglaublich beeindruckt.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.