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Gezielte Muskellähmung bei Spasmen

Datum 22.04.2002  00:00 Uhr
Botulinumtoxin

Gezielte Muskellähmung bei Spasmen

von Ulrike Wagner, Frankfurt am Main

Seit Ende vergangenen Jahres ist Botulinumtoxin A (Botox®) zur Behandlung fokaler Spastizität der Hand und des Handgelenks erwachsener Schlaganfallpatienten zugelassen. Während eines Symposiums stellten Experten Mitte April die Therapie mit dem Nervengift vor.

Die Erweiterung der Zulassung beruht auf einer amerikanischen doppelblinden placebokontrollierten Studie, an der 126 Patienten teilgenommen hatten. In Folge eines Schlaganfalls waren bei ihnen in Handgelenk und Fingern Spasmen aufgetreten. Die Injektionen von Botulinumtoxin A reduzierte die Muskelkrämpfe für die Dauer von zwölf Wochen deutlich. Dadurch verbesserte sich die Lebensqualität der Patienten, fasste Dr. Allison Brashear vom University Hospital in Indianapolis ihre Studienergebnisse während des von der Herstellerfirma Merz veranstalteten Symposiums zusammen.

Die Experten begrüßten zwar die Zulassungserweiterung und die dadurch mögliche Erstattung der recht hohen Therapiekosten durch die Kassen. Sie bedauerten jedoch, dass die Behörden die Zulassung auf Schlaganfallpatienten und den Unterarm beschränkten. "Die Zulassung ist so speziell, dass man dadurch mehr als vorher gebunden ist", sagte Professor Dr. Wolfgang H. Jost von der Deutschen Klinik für Diagnostik, Neurologie und Neurophysiologie in Wiesbaden. Die Therapie fokaler Spasmen mit Botulinumtoxin A sei mittlerweile unumstritten - ob sie nach einem Schlaganfall die Hand betreffen oder andere Ursachen haben und zum Beispiel an den Beinen oder am Rumpf auftreten.

Botulinumtoxin A stammt aus dem Bakterium Chlostridium botulinum, das für lebensgefährliche Nahrungsmittelvergiftungen (Botulismus) verantwortlich ist. Es vermehrt sich mit Vorliebe in schlecht konservierten Dosen und Wurst. Botulinumtoxin A ist eines der vom Bakterium produzierten Gifte und hemmt die Ausschüttung des Neurotransmitters Acetylcholin an den motorischen Endplatten. Dadurch unterbricht das Molekül die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel, die quergestreifte Muskulatur wird gelähmt.

Zugelassen ist Botox® bereits für weitere vier Indikationen: Blepharospasmus (Lidkrampf), Spasmus hemifacialis, spastischem Schiefhals und spastischem Spitzfuß bei infantiler Zerebralparese. Die Nebenwirkungen sind gering. Es kann zu Schmerzen an der Einstichstelle kommen und zu Schwächen in der benachbarten Muskulatur. Wie die Wirkung sind die Nebenwirkungen jedoch auf die Dauer von etwa zwölf Wochen beschränkt.

Selektive Lähmung

Was bei Lebensmittelvergiftungen tödlich verlaufen kann, nutzen Ärzte in Deutschland seit etwa zehn Jahren neben Phenolblockaden und neurochirurgischen Denervierungen, um Spasmen zu lösen. Das Toxin wirkt hoch selektiv, ein besonderer Vorteil beim Einsatz an der Hand, erklärte Dr. Martin Huber vom Therapiezentrum Burgau. Eine solche Therapie müsse jedoch immer von Physio- und Ergotherapie begleitet werden. Zudem kommen Verbände zum Einsatz, mit denen man den Muskeltonus reguliert und Fehlstellung korrigiert.

Spastische Bewegungseinschränkungen und Fehlstellungen entstehen nicht nur durch Schlaganfälle, sondern auch nach Schädelhirnverletzungen, Hirntumoren, Multipler Sklerose und Zerbralparese (Kinderlähmung in Folge eines frühkindlichen Hirnschadens). Mit der Botulinumtoxin-Therapie kann man zwar nicht immer die Beweglichkeit wieder herstellen. Aber der Patient gewinnt oft schon an Lebensqualität, wenn sich eine spastisch gelähmte Hand wieder öffnen lässt. Dadurch kann die Haut in der Handinnenfläche gepflegt werden, was durch die Spasmen oft unmöglich ist. Wunden und die durch den permanenten Druck auf die Finger entstehenden schmerzhaften Nagelbettentzündungen können abheilen, veranschaulichte Huber.

Andere Patienten können nach einer Behandlung mit Botulinumtoxin A die Hand wieder besser bewegen. Durch die Möglichkeit, jetzt bestimmte Muskelgruppen mit Hilfe von Krankengymnasten zu trainieren, verbessert sich der Zustand oft für einen wesentlich längeren Zeitraum als durch die etwa dreimonatige Wirkung des Botulinumtoxins zu erwarten wäre. Manchmal muss die Injektion nicht mehr wiederholt werden. Unbehandelt können wegen der starken Belastung durch die verkrampften Muskeln Gelenke und Bindegewebe dauerhaft Schaden nehmen.

Vor der Therapie müssen die Muskeln, die der Arzt mit Botulinumtoxin-A lahm legen möchte, genau identifiziert werden. Dies geschieht entweder klinisch, per Elektromyogramm oder nach elektrischer Stimulation der Muskeln, erklärte Huber. Das Toxin lähmt in den eingesetzten Mengen die Muskulatur nicht vollständig, schwächt sie jedoch. Für die auf einzelne Muskeln begrenzte Wirksamkeit sind die Septen in der quergestreiften Muskulatur verantwortlich. Sie verhindern weitgehend, dass der Wirkstoff in benachbarte Muskeln diffundiert.

Zur Schmerzreduktion

Spasmen verursachen neben Fehlstellung und Funktionsausfall oft auch Schmerzen in der betroffenen Muskulatur. So leiden 30 Prozent der Patienten mit einer Spastik im Unteram auch an Schmerzen, berichtete Professor Dr. Jörg Wissel von der Neurologischen Rehabilitationsklinik in Beelitz-Heilstätten. Auch hier kann Botulinumtoxin A Abhilfe verschaffen. Er präsentierte eine eigene Untersuchung, in der die Injektion von Botulinumtoxin A die Schmerzen bei 90 Prozent der betroffenen Patienten linderte.

Botulinumtoxin A erobert immer mehr Anwendungsgebiete in den verschiedenen Fachrichtungen, erklärte Dr. Christian Kabus von Jüdischen Krankenhaus Berlin. Oft ist der Wirkstoff dafür nicht zugelassen und auch in Zukunft wird sich daran wegen der geringen Patientenzahlen kaum etwas ändern, sagte der Berliner Arzt. Das Toxin wird zum Beispiel eingesetzt, wenn ein wichtiges Organ bedroht ist wie das Auge. Spezialisten sorgen zum Beispiel beim Lagophthalmus, einer Unfähigkeit bei erweiterter Lidspalte das Auge zu schließen, oder nach komplizierten Augenoperationen zum Schutz des Auges für einen Lidschluss - durch Injektion von Botulinumtoxin A. Auch lebensbedrohliche Situationen wie Krämpfe in den oberen Atemwegen können mit Botulinumtoxin A behandelt werden. Bei diesen Patienten kommt es zu einer abnormen Bewegung der Stimmlippen, die dann die Atemwege verschließen. "Weil die Erkrankung wenig bekannt ist, werden diese Patienten oft jahrzehntelang wegen angeblichen Asthmas behandelt, oft mehrfach intubiert und sogar tracheotomiert", sagte Kabus.

Teufelskreis durchbrechen

Patienten mit Multipler Sklerose geraten oft in einen Teufelskreis aus Spastik, Fehlstellung und Schmerz. Die auftretenden Spasmen können so stark sein, dass sie selbst die Titanschrauben von Hüftgelenksprothesen zerbrechen oder Orthesen (außen an der Extremität angebrachte Metallgestelle) lockern. Die Patienten geraten dadurch in eine verzweifelte Situation. Sie bleiben ans Bett gefesselt. Die Injektion des Nervengiftes sorgt für die Entspannung der verkrampften Muskulatur und kann dringend erforderliche Operationen ermöglichen oder destruktive Operationen verhindern, verdeutlichte Kabus an beeindruckenden Fallbeispielen.

Die Therapie mit Botulinumtoxin A sollte erfahrenen Ärzten und spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben, darin waren sich die Experten einig. Denn eine unsachgerechte Behandlung kann gefährlich werden. Zudem ist die Therapie mit dem Bakteriengift teuer. Trotzdem senke die Behandlung insgesamt die Kosten, weil dessen Einsatz zum Beispiel Sekundärschäden wie die Deformation der Gelenke, Kontrakturen und Schmerzen vermeidet, so Jost. Derzeit wird die Therapie nicht von den Krankenkassen übernommen. Die Kliniken müssen die Behandlung von den Tagespflegekosten abziehen, mit der Folge, dass viele Patienten die Therapie nicht erhalten.

 

Botulinumtoxin in der Kosmetik Die FDA hat vergangene Woche den kosmetischen Einsatz von Botulinumtoxin-A in den USA zugelassen. Die Injektion von des Nervengifts glättet auch Fältchen für drei Monate und kann dann wiederholt werden. Eine Behandlung dauert weniger als zehn Minuten in der Praxis eines Hautarztes und kostet im Schnitt etwa 450 Euro, berichteten amerikanische Medien am Dienstag. Experten schätzen, dass sich Amerikanerinnen und Amerikaner im vergangenen Jahr insgesamt 1,6 Millionen Dosen Botulinumtoxin gegen Falten spritzen ließen, darunter viele Hollywood-Schauspieler. In Deutschland ist der Wirkstoff nach wie vor für diese Indikation nicht zugelassen.

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