Tumortherapeutika vor der Zulassung |
22.05.2012 17:30 Uhr |
Von Daniel Flesch und Manfred Schubert-Zsilavecz / Weltweit befinden sich aktuell rund 1100 onkologische Studien in Phase III der klinischen Prüfung. Der überwiegende Teil dieser Zulassungsstudien wird mit bereits zugelassenen Arzneistoffen durchgeführt, für die neue Kombinationstherapien erprobt und/oder neue Indikationsgebiete erschlossen werden sollen.
Darüber hinaus werden rund 80 neue Wirkstoffe in verschiedenen onkologischen Indikationsfeldern klinisch geprüft. Neben bereits bekannten Targets werden von diesen Arzneistoffkandidaten auch neue Zielstrukturen in verschiedenen tumorrelevanten Signal- und Stoffwechselwegen adressiert. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtige Entwicklungen und aussichtsreiche klinische Kandidaten vorgestellt werden (siehe dazu Tabelle).
Einen großen Anteil an den klinisch weit fortgeschrittenen Tumortherapeutika stellt die Klasse der Angiogenese-Hemmer dar. Nicht zuletzt wegen des erfolgreichen Einsatzes des Vascular-endothelial-growth-factor-(VEGF)-Antikörpers Bevacizumab (Avastin®) in einer Reihe von onkologischen Indikationen stellen der VEGF-Rezeptor (VEGFR) und dessen Aktivatoren attraktive Targets für eine große Anzahl von »small molecules« und biogenen Arzneistoffen dar. Der VEGF-Rezeptor stellt eine Rezeptortyrosinkinase (RTK) dar, von der es drei Subtypen gibt (VEGFR1-3) gibt, die die verschiedenen vaskulären endothelialen Wachstumsfaktoren mit unterschiedlicher Affinität binden.
Aflibercept ist ein Fusionsprotein aus dem Fc-Teil der schweren Kette des IgG1-Antikörpers und Teilen des VEGFR1 und VEGFR2. Dieses Protein wirkt als »VEGF-trap«, indem es Aktivatoren des Rezeptors abfängt und somit die angiogenetische Signaltransduktion unterbindet (decoy-Rezeptor). Klinisch wird Aflibercept in Phase III gegen metastasierendes Kolonkarzinom und androgen-unabhängiges Prostatakarzinom geprüft. Kürzlich erhielt der Wirkstoff eine Zulassung zur Behandlung der feuchten Makuladegeneration.
Einen selektiven Ansatz gegen VEGFR2 stellt der monoklonale Antikörper Ramuricumab dar. Dieser bindet mit hoher Affinität an die VEGF-Bindungsstelle des VEGF-Rezeptorsubtyps 2 und verhindert so dessen Aktivierung. Ramuricumab wird in Phase III zur Behandlung verschiedener solider Tumoren geprüft.
Verbindung | Target | Indikationen (Phase III) |
---|---|---|
Blockade extrazellulärer Wachstumssignale | ||
Aflibercept | VEGF-Trap | Colon-Ca, androgen-unabh. Prostata-Ca |
Ramuricumab | VEGFR2 | Magen-Ca, Leber-Ca, Mamma-Ca, Colon-Ca, Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
Apatinib | VEGFR2 | Magen-Ca, Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
Lenvatinib | VEGFR2 und 3 | Schilddrüsen-Ca |
Tivozanib | VEGFR1,2 und 3 | Nieren-Ca |
Cabozantinib | VEGFR, c-Met | Schilddrüsen-Ca, kastrations-resistentes Prostata-Ca |
Brivanib | VEGFR, FGFR | Leber-Ca |
Nintedanib | VEGFR, PGDGFR, FGFR | Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig), Ovarial-Ca |
Cediranib | VEGFR, PGDGFRβ, c-KIT | Colon-Ca, Glioblastoma, Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
AMG 479 | IGFR | Pankreas-Ca |
OSI-906 | IGFR | Adrenocortical-Ca (ACC) |
Personalisierte Therapeutika | ||
Dabrafenib | B-Raf V600E | Metastasierendes Melanom |
GSK1120212 | MEK1 und 2 | Metastasierendes Melanom |
Bosutinib | Bcr-Abl, Src | chronisch-myeloische Leukämie |
Tivantinib | c-MET | Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
Onartuzumab | c-MET | Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
Inotuzumab-Ozogamicin | Anti-CD22 + Cytostatikum | Non-Hodgkin-Lymphom, akute lymphoblastische Leukämie |
Neratinib | HER2, EGFR | Mamma-Ca |
Afatinib | HER2, EGFR | Kopf- und Nacken-Ca, Bronchial-Ca (nicht-kl.), Mamma-Ca |
Dacomitinib | HER1, 2 und 4 | Bronchial-Ca (nicht-kleinzellig) |
Blockade intrazellulärer Signalwege | ||
Rigosertib | Polo-like-Kinase 1 | Pancreas-Ca, myelodysplastisches Syndrom |
Alisertib | Aurorakinase A | peripheres T-Cell-Lymphom |
Barasertib | Aurorakinase B | akute, myeloische Leukämie |
Custirsen | Clusterin-Expression | Prostat-Ca, kastrations-resistentes Prostata-Ca |
GS-1101 | PI3K delta | chronisch, lymphatische Leukämie |
Tyroserleutide | Monozytenaktivierung/ PI3K-Downregulation | Leber-Ca |
Enzastaurin | PKCβ | Glioblastom, Non-Hodgkin-Lymphome |
Obatoclax | Bcl-2 | Bronchial-Ca (fortgeschritten kleinzelliges) |
Elotuzumab | Anti-CS1 | Multiples Myelom |
Alpharadin | Radium-223-chlorid | Hormon-refraktäres Prostata-Ca mit Knochenmetastasen |
Unter den kleinen Molekülen ist Apatinib ein Tyrosinkinaseinhibitor, welcher ebenfalls Selektivität für VEGFR2 aufweist. Während Lenvatinib als dualer Hemmstoff von VEGFR2 und VEGFR3 agiert, hemmt Tivozanib alle Subtypen des VEGF-Rezeptors (pan-Inhibitor). Die möglichen Einsatzgebiete dieser erstrecken sich vom Magenkarzinom und nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom (Apatinib) über Schilddrüsenkrebs (Lenvatinib) zu Nierenkarzinom (Tivozanib).
Neben den Inhibitoren des VEGF-Rezeptors befinden sich auch Multikinase-Inhibitoren in der Pipeline, welche zusätzlich zu den Rezeptoren des VEGF auch die Tyrosinkinasen MET (Cabozantinib), FGFR (Brivanib), PDGFR und FGFR (Nintedanib)0 oder PDGFRβ und c-KIT (Cediranib)11 inhibieren.
Brivanib wird bei hepatozellulären Karzinomen eingesetzt und zeigte in einer Phase-II-Studie sowohl bei therapienaiven Patienten als auch nach vorangegangener Behandlung mit Sorafenib eine deutliche Verbesserung des Gesamtüberlebens. Nintedanib wird in den Phase-III-Studien LUME-Lung 1 und 2 sowie LUME-Ovar gegen nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom und Ovarialkarzinom evaluiert. Die Wirksamkeit von Cediranib wird aktuell in Phase III beim metastasierenden kolorektalen Karzinom, beim Glioblastom und beim nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom geprüft. Ein weiterer Hemmer der Angiogenese ist das cyclische Pentapeptid Cilengitid, welches über die Blockade von Integrinen seine Wirkungen entfaltet.
Vorwiegend antiproliferative Ansätze finden sich in Inhibitoren des Insulin-like-growth-factor-Rezeptors (IGFR), welcher als Mediator von Wachstumssignalen über den Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K)/Akt-Weg sowie den MEK/ERK-Signalweg fungiert. Mit AMG 479 und OSI-906 befinden sich ein monoklonaler Antikörper und ein small molecule in der späten klinischen Entwicklung, welche beim Pankreaskarzinom (AMG 479) und beim adrenokortikalen Karzinom (OSI-906) eingesetzt werden sollen.
Tyrosinkinaseinhibitoren und monoklonale Antikörper werden heute insbesondere auch im Kontext einer individualisierten Therapie klinisch geprüft. Charakteristisch für diese Wirkstoffe beziehungsweise deren therapeutischen Einsatz ist die Tatsache, dass vor dem Beginn einer Therapie entweder eine Genanalyse – zur Feststellung einer der jeweiligen Tumorerkrankung zugrundeliegende Genmutation- und/oder die vermehrte Expression eines Tumor-relevanten Proteins nachgewiesen werden muss. Eine solche Therapiestrategie stellt sicher, dass nur jene Patienten eines erkrankten Patientenkollektivs eine personalisierte Therapie mit hoher Erfolgsaussicht erhalten, die spezielle Mutations- oder Expressionsprofile in ihren individuellen Tumorzellen zeigen. In Analogie zu den seit Längerem eingesetzten Wirkstoffen wie Trastuzumab und Imatinib sowie kürzlich zugelassenen Wirkstoffen wie Pertuzumab, Crizotinib oder Vemurafenib, befindet sich eine Reihe weiterer Wirkstoffe in der Pipeline, welche personalisiert eingesetzt werden. Mit Dabrafenib steht nach dem bereits zugelassenen Vemurafenib ein weiterer Inhibitor der mutierten B-raf-V600E-Kinase vor der Zulassung. Ebenso wie Vemurafenib und Dabrafenib soll auch der Wirkstoff GSK1120212 zur Behandlung des metastasierenden Melanons eingesetzt werden. Der neue Wirkstoff wirkt als allosterischer Inhibitor der Kinasen MEK1 und 2, zwei Targets downstream von B-Raf. Nach Imatinib befindet sich mit Bosutinib ein weiterer Inhibitor der Bcr-Abl-Kinase in der klinischen Testung, welcher zusätzlich verschiedene Kinasen der Src-Familie inhibiert. Neben einer head-to-head-Phase-III-Studie mit Imatinib als Referenz, wurde im Februar eine New Drug Application (NDA) zur Zweitlinientherapie bei Bcr-Abl-positiver, chronisch myeloischer Leukämie eingereicht.
Ein neuartiger Ansatz stellt die Inhibition des c-MET-Rezeptors dar, welcher in c-MET-positivem, nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom eine Indikation findet. Der c-MET-Rezeptor wird durch den Hepatocyte growth factor (HGF) aktiviert und ist ein wichtiger Mediator von Wachstumsignalen. Er wird durch Tivantinib sowie den Antikörper Onartuzumab inhibiert. In zwei Studien werden die Wirkstoffe in Kombination mit Erlotinib verabreicht und neben dem c-Met-Status auch der EGFR-Mutationsstatus überprüft. Während bei Onartuzumab ein positiver c-Met-Status ein Einschlusskriterium war, wurde dieser in der Tivantinib-Studie erst nach Randomisierung erhoben. Bei CD22-positiver, akuter lymphoblastischer Leukämie, beziehungsweise Non-Hodgkin-Lymphomen wird das Antikörper-Konjugat Inotuzumab-Ozogamicin eingesetzt. Dieses stellt ein kovalentes Agens aus anti-CD22-Antikörper und cytotoxischer Calchicheamicin-Komponente dar und könnte dem kürzlich durch die FDA zugelassenen Brentuximab-vedotin folgen.
Neuer Angriffspunkt: Mitotischer Spindelapparat
Nach dem klinischen Erfolg des HER2/neu-Antikörpers Trastuzumab und den damit verbundenen Durchbruch in der Therapie des Mamakarzinoms, spielen HER-Rezeptorinhibitoren eine große Rolle in der pharmazeutischen Entwicklung. HER steht für human epidermial growth factor receptor und bildet mit 4 Subtypen eine Rezeptorfamilie: HER1 steht dabei synonym für den EGFR. HER-Rezeptorinhibitoren mit Aktivität gegen mehrere Subtypen der HER/EGFR-Rezeptorfamile werden aktuell in verschiedenen Indikationen, auch außerhalb des Krankheitsbildes HER2/neu-positives Mammakarzinom, evaluiert. Dies ist auf die hohe Beteiligung dieser Rezeptorfamilie bei einer Reihe von malignen Erkrankungen zurückzuführen.
Neratinib und Afatinib sind irreversible Tyrosinkinaseinhibitoren mit einer Selektivität für HER2/neu und EGFR in später Phase der klinischen Entwicklung. Beide Wirkstoffe ähneln in ihrem pharmakodynamischen Profil Lapatinib und sollen zukünftig in der Indikation HER2/neu-positives Mammakarzinom eingesetzt werden. Der Einsatz von Afatinib wird auch bei Kopf- und Nacken-Karzinom sowie beim nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom geprüft. Bei letztgenannter Indikation zeigte sich in der »LUX-Lung-1«-Studie (Phase IIb/III) zwar keine Verbesserung des Gesamt-Überlebens, jedoch eine Verdreifachung des progressionsfreien Überlebens sowie eine Verbesserung der Symptomatik. Mit Dacomitinib wird ein Tyrosinkinaseinhibitor der Subtypen HER1, HER2 und HER4 gegen nicht-kleinzelliges Bronchialkarzinom entwickelt, der insbesondere bei Erlotinib- oder Gefitinib-non-Respondern – aufgrund sekundärer Mutationen in der HER/EGFR-Familie – zur Anwendung kommen soll. Neben einem Monitoring des Mutationsstatus der Rezeptoren HER/EGFR wird ein therapiebegleitender Test auf KRAS-Mutationen eingesetzt, welcher eine prognostische Aussage über die mögliche Wirksamkeit einer anti-HER/EGFR-Therapie erlaubt.
Bei Ansätzen, deren Targets nicht (Rezeptor-)Tyrosinkinasen sind, zeigen sich einige innovative Ansätze, welche vor allem mit antiapoptotischen Signalwegen interferieren oder Zellteilung und -metabolismus beeinflussen. Mit den Wirkstoffen Rigosertib, Alisertib und Barasertib sind drei Moleküle in der Entwicklung, welche den Aufbau des mitotischen Spindelapparates hemmen und mit der Polo-like-Kinase 1 (Rigosertib), Aurorakinase A (Alisertib) und Aurorakinase B (Barasertib) jeweils unterschiedliche Targets adressieren (siehe dazu Abbildung). Die Indikationen der Phase-III-Studien sind akute myeloische Leukämie (Barasertib), peripheres T-Zell-Lymphom (Alisertib) sowie metastasierendes Pankreaskarzinom und das myelodysplastische Syndrom (Rigosertib).
Mit Custirsen (OGX-011) befindet sich ein Wirkstoff mit einem völlig neuartigen Ansatz und fast-track-Status der FDA in Phase III der klinischen Prüfung. Custirsen inhibiert als Antisense-Oligodesoxynucleotid die Bildung von Clusterin, welches stress-assoziierte, antiapoptotische Eigenschaften besitzt und in chemotherapeutisch behandelten Zellen hochreguliert wird. Das Ausschalten dieses Resistenzmechanismus durch Gabe von Custirsen soll ein verbessertes Ansprechen der Krebszellen auf Chemotherapeutika bewirken. In einer Phase-II-Studie bei kastrationsresistentem Prostatakarzinom (in Kombination mit Taxanen) konnte eine Verbesserung im progressionsfreien Überleben und Gesamtüberleben erreicht werden. Mit GS-1101 befindet sich ein Inhibitor der PI3Kδ und damit des PI3K/Akt-Signalweges in Phase III der klinischen Prüfung. Dieser Signalweg ist ein Mediator für Proliferation und Zellüberleben und kann in Krebszellen überaktiviert sein. GS-1101 wird in der Indikation chronisch-lymphatischer Leukämie getestet. Ein weiterer Wirkstoff, der mit dem PI3K/Akt-Weg interferiert ist Enzastaurin. Es hemmt die Proteinkinase Cβ, welche upstream des PI3K-Akt-Signalweges agiert. Durch die Blockade dieses Targets wird eine Inhibition zahlreicher proliferativer Signalwege wie der Ras-Raf-Kaskade oder NFκB-Aktivierung bewirkt. Enzastaurin wurde orphan-drug-Status zur Behandlung des Glioblastoms und diffusen B-Zell-Lymphomen eingeräumt. Eine weitere Phase-III-Studie soll in der Indikation Non-Hodgkin-Lymphom eine mögliche Wirksamkeit überprüfen. Mit Tyroserleutid ist ein Tripeptid (Sequenz: YSL) in der klinischen Entwicklung, welches Antitumoraktivität durch verschiedene Mechanismen besitzt: so wurde neben einer Aktivierung des Makrophagen-Monozyten-Systems auch eine verstärkte monozytäre Produktion von Cytokinen wie IL1β, NO und TNF-α gefunden. Des Weiteren kommt es zu einer Downregulation der Expression von Calmodulin und der PI3K-Untereinheiten. Tyroserleutid wird in Phase III bei hepatozellulärem Karzinom geprüft. Ein neuartiger Ansatz, welcher eine verstärkte Apoptose durch Inhibition von Bcl-2-Proteinen erreichen soll, wird durch den Wirkstoff Obatoclax realisiert. Eine neue Therapiestrategie gegen Knochenmetastasen bei kastrations-resistentem Prostatakarzinom stellt Alpharadin (Radium-223) dar, welches Fast-Track-Status durch die FDA erhalten hat. Mechanistisch wird neben der zellschädigenden Alpha-Strahlung des radioaktiven Isotops auch die Anreicherung im Knochengewebe ausgenutzt, um Metastasen einzudämmen. Nach positiven Daten der Phase-III-Studie ALSYMPCA ist eine Antragsstellung zur Zulassung für Mitte 2012 geplant.
Es ist davon auszugehen, dass nicht alle der hier vorgestellten Arzneistoffe eine Zulassung erhalten. Dennoch besitzen einige Kandidaten zweifelsfrei das belastbare Potenzial als Schritt- oder Sprunginnovationen anerkannt und in Therapieleitlinien aufgenommen zu werden. Die größten Hoffnungen liegen sicherlich bei jenen Innovationen, die zukünftig im Rahmen der personalisierten onkologischen Therapie eingesetzt werden. /
Literatur bei den Verfassern