Zwei Extreme in puncto Arbeitsverhalten |
Das Aufschieben von Tätigkeiten ist ein Alltagsphänomen und offenbar weit verbreitet. In einer Studie gaben laut WWU nur 2 Prozent der Menschen an, niemals aufzuschieben. In bestimmten Fällen kann es sich zu einem ernsthaften Problem entwickeln. / Foto: Adobe Stock / Anton
Prokrastination ist das Aufschieben von dringenden, notwendigen und meistens unangenehmen Aufgaben. Nicht nur Studenten und Schüler prokrastinieren von Zeit zu Zeit, auch Berufstätige schieben ihre Aufgaben vor sich her. Prokrastination während des Studiums ist jedoch wesentlich einfacher festzustellen, da sich hier die Erledigung oder Nicht-Erledigung des vorgegebenen Arbeitspensums schnell in den Zensuren widerspiegelt. Ein Alarmzustand ist spätestens dann erreicht, wenn die Prokrastination nicht nur auf ein paar unbeliebte Aufgaben beschränkt ist, sondern das gesamte Leben des Betroffenen beherrscht.
Prokrastination ist nicht per se schlecht, denn es gibt auch weniger angenehme Aufgaben, die eine »mentale« Entwicklungszeit brauchen, das heißt erst einmal im Geiste reifen müssen. Im Gegenteil können sogar die Folgen eines unüberlegten, emotionsbetonten Handelns negative Konsequenzen mit sich bringen: Eine kontroverse Beschwerde-E-Mail an den Arbeitgeber, den Kunden oder den Dozenten sollte beispielsweise lieber nicht im Affekt geschrieben werden. Hier ist eine »Nacht darüber zu schlafen« die bessere Option.
Psychologische Untersuchungen zeigen, dass sich etwa 20 Prozent der Bevölkerung als chronische Prokrastinierer bezeichnen. Auch eine scharfe Trennung in berufliche, akademische oder private Prokrastination ist schwierig. Prokrastinierer kommen im privaten Leben häufig zu spät zu Verabredungen und Veranstaltungen, versäumen Fristen, sind chaotisch und erledigen ihre Aufgaben weniger zuverlässig.
Chronische Prokrastination kann diverse Gründe haben: Depressionen, Angststörungen, eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder auch ein temporäres Problem im Sozialleben. Ist eine ernsthafte psychische Grunderkrankung Ursache für das chronische Aufschieben, sollten sich Betroffene professionelle Unterstützung in Form einer Psychotherapie suchen. Andererseits kann auch die Prokrastination selbst das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen und somit psychische Beschwerden verursachen. Dann zweifeln Betroffene häufig an sich selbst, sind pessimistisch gestimmt, unzufrieden und in schweren Fällen auch hoffnungslos.
Wie zahlreiche psychologische Studien belegen, wirken bestimmte Persönlichkeitsfaktoren wie Gewissenhaftigkeit und Offenheit für neue Erfahrungen der Prokrastinations-Neigung eher entgegen. Demgegenüber sollen Perfektionismus, Ängstlichkeit, Impulsivität sowie eine geringe Ausdauer das Prokrastinieren begünstigen.
Die Angst vor dem Versagen, vor einer schlechten Bewertung sowie zu hohe Ansprüche an die eigene Leistung sind Gründe, warum Betroffene Aufgaben als unangenehm (aversiv) empfinden. Prokrastinierer geben oft an, sie seien leistungsfähiger, wenn die Zeit wirklich knapp wird. Diese Aussage behalten die meisten chronischen Prokrastinierer auch dann noch bei, wenn sie in der Vergangenheit bereits schmerzlich erfahren mussten, dass das Ergebnis und die Qualität der geleisteten Arbeit für sie eher enttäuschend war. Nicht selten nutzen sie dann den Zeitmangel als eine Erklärung für die eigene schlechte Leistung und schützen dadurch ihren Selbstwert. Ganz nach dem Motto: »Wenn ich mich mehr angestrengt hätte, wäre die Note viel besser!« Dieses Verhaltensmuster wir auch als »Self-handicapping« bezeichnet.
Paradoxerweise haben Untersuchungen gezeigt, dass Prokrastinierer andere Menschen, die das gleiche Arbeitsverhalten zeigen, meist als weniger sympathisch und vertrauenswürdig empfinden. So werden Dozenten, die eine sehr lange Zeit brauchen, um eine Klausur zu korrigieren, für die sich der Prokrastinierer »auf den letzten Drücker« vorbereitet hat, vom selbigen als weniger zuverlässig betrachtet.
Recht neu und eher ein Zufallsbefund ist das Phänomen der Präkrastination. Hierbei handelt es sich um die frühzeitige und eilige Erledigung der Aufgaben, auch wenn dies häufig einen wesentlich größeren Aufwand und eine größere Anstrengung erfordert. Die Studienlage auf diesem Gebiet ist zurzeit noch recht dünn. Dennoch haben Forscher erste Erklärungen für das Phänomen. Sie vermuten, dass Menschen, die zur Präkrastination neigen, damit zum einen ihr Gedächtnis entlasten, sich zum anderen aber als verantwortungsvoll und würdig zeigen wollen. »Präkrastinierer« erledigen ihre Arbeitjedoch häufig halbherzig, schnell, versäumen nicht selten Aufgaben in anderen Bereichen und vernachlässigen ihre sozialen Kontakte. Sie gelten deshalb meist nicht automatisch als besser organisiert und sind auch nicht beliebter als diejenigen, die eine Aufgabe strukturiert, kontinuierlich und zur richtigen Zeit anfangen.
In puncto Stressmanagement können sowohl die Prä- als auch die Prokrastination langfristig zur Ursache für Burnout und Überforderung werden. Vor allem Prokrastination wird leider häufig auf die leichte Schulter genommen. Schlechte Leistungen im Studium, eine lange Studiendauer oder nicht bestandene Prüfungen können dem beruflichen Erfolg jedoch im Wege stehen. Auch später am Arbeitsplatz, wenn sich beispielsweise die Beschwerden seitens der Kunden und Kollegen häufen, ist chronische Prokrastination ein ernstzunehmendes Problem. In schweren Fällen muss sie gegebenenfalls psychotherapeutisch behandelt werden.
Im Rahmen einer Verhaltenstherapie analysieren Betroffene das eigene »Aufschiebeverhalten« und lernen, wie sie dieses künftig kontrollieren und reduzieren können. Das Ziel einer solchen Therapie ist es, bestimmte Arbeitsgewohnheiten systematisch zu verändern. Die Betroffenen lernen dabei wie sie Ablenkungen ausblenden, ihre Ziele realistisch einschätzen und sie sich aktiv mit einer Aufgabe auseinandersetzen können. In der Regel übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen anerkannte psychotherapeutische Maßnahmen, die von Psychologen angeboten werden.
Am psychologischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) in Münster gibt es zudem eine deutschlandweit einzigartige Prokrastinations-Ambulanz für betroffene Studierende. Untersuchungen der Universität haben gezeigt, dass sich 10 bis 20 Prozent der Studierenden als chronische Prokrastinierer einordnen. Auf ihrer Website bietet die Ambulanz die Möglichkeit eines Selbsttests an. Auf der Grundlage eines Fragebogens erfolgt die Einschätzung einer möglichen Behandlungsbedürftigkeit. Für Studierende der WWU Münster gibt es zusätzlich ein Anti-Prokrastinations-Training vor Ort.