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Schulstart

Wieder mehr virale Infekte erwartet

In den ersten Bundesländern gehen die Sommerferien zu Ende. Fachleute erwarten jedoch, wieder mehr virale Atemwegsinfekte. Damit rechnen auch die Intensivmediziner im Herbst bei Patienten mit Vorerkrankungen.
dpa
29.07.2021  15:00 Uhr

Mehrere Infekte pro Jahr – bei Kindern ist das nicht ungewöhnlich. Doch in der Pandemie mit Homeschooling und zeitweise geschlossenen Kitas, mit Masken, Kontaktbeschränkungen und Abständen wurde nicht nur das Coronavirus zurückgedrängt: Auch eine Reihe anderer Krankheiten trat seltener auf als üblich. Das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin verzeichnete etwa sehr niedrige Zahlen anderer akuter Atemwegsinfektionen. Eine Grippewelle baute sich vergangene Saison gar nicht erst auf.

Mit der geplanten Rückkehr zu mehr Normalität mit Präsenz an Schulen in diesem Herbst und Winter rechnen Fachleute jedoch damit, dass Kinder und Jugendliche Infekte nachholen. Zum befürchteten Corona-Anstieg gerade in diesen oft ungeimpften Gruppen dürften demnach einige Erkältungen und Grippe hinzukommen. «Da man bei Husten und Fieber erst einmal an Corona denken muss, sich sicherheitshalber in Quarantäne begeben und das Testergebnis abwarten muss, dürfte das ein erheblicher Störfaktor für den Schulbetrieb werden», erwartet der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Professor Dr. Carsten Watzl.

Nach dem Ende von Lockdowns in mehreren Staaten, darunter in Teilen der USA und in Israel, ist bereits über vermehrte Erkrankungen durch das Respiratorische Synzytial-Virus (RS-Virus) berichtet worden. Der Erkältungserreger geht normalerweise hauptsächlich in den Wintermonaten um, breitete sich nun aber in der wärmeren Jahreszeit aus.

Kinderärzte in Deutschland registrierten durch das RS-Virus ausgelöste Erkältungen bislang im Sommer «ein bisschen vermehrt», sagte der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, der Deutschen Presse-Agentur. «Wir sehen das aber relativ gelassen.» Kinder holten die Infekte nach, die sie in der Corona-Zeit verpasst hätten. «Das RS-Virus ist ein normaler Erkältungserreger, nach dem man normalerweise nicht suchen würde. Die Gefährdung dadurch ist nicht vergleichbar mit der durch Corona oder Grippe», sagte er. Zu den bestimmten Gruppen, für die das Virus ein Risiko darstelle, gehörten extrem Frühgeborene und vorerkrankte Neugeborene, für die aber die Möglichkeit zur Vorbeugung mit einer Antikörper-Gabe bestehe.

Das RKI schreibt in einer Herbst-Winter-Strategie, dass nun von einer zusätzlichen Zahl an Kindern und Jugendlichen auszugehen sei, die für akute Atemwegsinfekte empfänglich sind. Dies könne sowohl zu einer Verschiebung saisonaler Erkrankungswellen «als auch zu einer größeren Zahl und gegebenenfalls auch einer Zunahme schwerer Erkrankungen» führen. Präventions- und Versorgungsmöglichkeiten zu Influenza, RSV-Erkrankungen und Lungenentzündungen, insbesondere bei Kindern und in der älteren Bevölkerung, sollten vorbereitet werden, so das RKI.

Es sei normal und positiv zu sehen, dass Kinder Infekte durchmachen, sagte der Berliner Kinderarzt Maske. «Sicherlich werden wir leichte Formen davon in den nächsten Monaten vermehrt sehen. Die Hauptschwierigkeit wird sein, bei der Schnupfnase zu unterscheiden, ob es Corona oder eine banale Erkältung ist.» Für Eltern werde dies auch wieder einigen Ärger und Unsicherheit bedeuten. «Aber wir werden das wieder wuppen.»

Schwerere Infekte als sonst drohen nicht

Drohen Infekte bei Kindern nach der Corona-Zeit nun schwerer auszufallen, weil das Immunsystem weniger trainiert ist? Immunologe Watzl geht von mehr Erkrankungen, aber nicht zwangsläufig von schwereren Verläufen aus. «Das Immunsystem darf man sich nicht als Muskel vorstellen, der sich in der Pandemie zurückgebildet hat.» Auch mit den Maßnahmen zum Schutz vor Corona habe es noch genug zu tun gehabt, zum Beispiel weil Keime nicht nur mit der eingeatmeten Luft, sondern etwa auch mit dem Essen aufgenommen würden.

Je nach Erreger gebe es unterschiedliche Ursachen, aus denen man sie sich einfängt, erklärt der Immunologe: «Rhinoviren etwa bekommt man, weil sich das Virus ständig verändert und dem Immunsystem somit neu erscheint. Es liegt nicht an mangelnder Erfahrung.» Bei den normalen Erkältungs-Coronaviren und dem RS-Virus sei man nach einer gewissen Zeit einfach wieder fällig. Bei solchen Infektionen «sind jetzt mehr Menschen wieder «dran», da viele sich ihre Immunität nicht letzte Saison abgeholt haben», erläutert Watzl. «Bei diesen Infektionen kann man daher eine höhere Zahl als normal erwarten. Bei den Rhinoviren zum Beispiel gehe ich nicht von einer höheren Anzahl aus.»

Auch trotz der befürchteten Corona-Verbreitung unter Kindern und Jugendlichen hält Kinderarzt Maske die Rückkehr zum Präsenzunterricht mit Hygienemaßnahmen und Testen für alternativlos. «Kinder sind eine relativ sichere Gruppe. Sie erkranken meistens nicht, wenn sie sich mit Corona infizieren. Das gilt auch für die neuen Virusvarianten», sagte Maske. Über das Ausmaß von Langzeitfolgen, Long Covid genannt, wisse man zwar noch nicht genug. «Wir sehen jedoch bisher bei Kindern und Jugendlichen weitaus mehr negative Folgen von Isolation und Pandemiemaßnahmen als von Corona und Long Covid.» Mehrere Studien zeigten vor allem psychische Belastungen.

Für Kinderarzt Maske ist es daher keine Frage: Kitas und Schulen sollten auch bei steigenden Inzidenzen unbedingt geöffnet bleiben, appelliert er. Nach den harten Einschnitten für diese Gruppen in den vergangenen Monaten sei Solidarität mit ihnen gefragt. «Erwachsene müssen sich zum Schutz der Kinder gegen Covid-19 impfen lassen, nicht umgekehrt», betonte Maske. Der Ständigen Impfkommission (Stiko), die die Corona-Impfung bislang nur vorerkrankten Kindern ab 12 Jahren empfiehlt, stärkte er den Rücken: «Es ist unglaublich, dass manche Politiker jetzt Kinder-Impfungen empfehlen.»

Rechtzeitig impfen lassen

Aber nicht nur Schülerinnen und Schüler wird es wohl vermehrt treffen: Intensivmediziner in Deutschland rechnen für Herbst und Winter wieder verstärkt mit Menschen mit diversen Atemwegserkrankungen. «Durch das Tragen von Masken und die anderen Regeln war die Zahl der Patienten mit Grippe und anderen viralen Krankheitserregern während der Corona-Zeit verschwindend gering», bestätigt der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), Professor Dr. Gernot Marx, der Deutschen Presse-Agentur. «Wir befürchten, dass dieser positive Effekt nun verschwinden wird und wir zu den potenziellen Corona-Patienten zwischen Oktober und März auch die anderen Patienten mit viralen Erkrankungen betreuen werden.»

Die Patientenzahlen seien schwer einzuschätzen, auch vor der Corona-Zeit schwankten die Werte von Saison zu Saison. «Aber klar ist, dass Grippe- und Covid-19-Patienten unter Umständen die gleichen Therapien brauchen, zum Beispiel die künstliche Lunge. Die ECMO-Kapazität in Deutschland ist im internationalen Vergleich sehr gut, aber jede Kapazität hat ihre Grenzen.»

Ein erhöhtes Risiko für einen schwereren Verlauf von Grippe haben laut RKI unter anderem ältere Menschen und solche mit bestimmten Grundkrankheiten oder schwerer Fettleibigkeit. Außerdem erhöhe eine Schwangerschaft, vor allem im fortgeschrittenen Stadium, dies Risiko.

Auch das RKI mahnt in einer Herbst-Winter-Strategie für die stationäre und ambulante Versorgung eine frühzeitige Vorbereitung «auf ein verstärktes Krankheitsgeschehen» an, «auch angesichts der zusätzlich zu erwartenden Belastung durch akute Atemwegsinfektionen», die in der Saison 2020/21 nicht in der Bevölkerung zirkuliert seien. 

Marx rief erneut zum Wahrnehmen der Impfangebote gegen Covid-19 auf: «Ich weiß nicht, woher dieses Wir-haben-es-geschafft-Gefühl mancher Menschen kommt, wo wir doch so viele noch nicht geimpft haben. Zu glauben, dass man die Impfung nicht brauche, weil schon so viele geimpft seien, ist ein absoluter Trugschluss», sagte Marx, der Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen ist. Von der Impfbereitschaft und vernünftigem Verhalten mit Vorsicht, Abständen und Maske hänge die Zahl der Neuinfektionen ab. Das sei ausschlaggebend, um besser durch die nächsten Monate zu kommen.

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