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Covid-19

Warum Herdenimmunität als Prävention keine gute Idee ist

Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote – quasi der komplette Verzicht auf sozialen Austausch und berufliche Kreativität – im Kampf gegen das Coronavirus beginnen zu nerven. Da wundert es nicht, dass der Ruf nach einem Ausweg aus dieser Situation immer lauter wird. In das Argumentations- und Forderungskauderwelsch mischt sich auch der Ruf nach der Herdenimmunität als mögliche Präventionsmaßnahme. Diese kommt aber aus mehreren Gründen nicht infrage.
Theo Dingermann
20.04.2020  09:34 Uhr

Prävention ist eine Projektion in die Zukunft. Eine Entwicklung vorherzusagen, ist generell schwierig. Groß ist die Gefahr, ins Fantasieren abzugleiten, wenn man nicht auf einen fundierten Erfahrungsschatz zugreifen kann, der datentechnisch strukturiert so analysiert und aufbereitet ist, dass man diese Daten in Rechenmodelle einfließen lassen kann, die mithilfe erheblicher Rechenleistung unterschiedliche Outcome-Szenarien modellieren. In der Medizin ist man hier notorisch schlecht. Dass so etwas allerdings prinzipiell gut funktionieren kann, demonstrieren täglich die Meteorologen.

Dass Vorhersagen schwierig zu treffen sind, gilt im Falle einer Pandemie besonders, vor allem dann, wenn diese wie bei SARS-CoV-2 von einem Agens verursacht wird, das neu ist und von dem folglich zunächst nichts bekannt ist. Wohl auch als Folge der Hilflosigkeit im Umgang mit dieser Situation drängt sich langsam ein Thema in den Vordergrund: die Diskussion über die Herdenimmunität.

Immer mehr Experten und Besserwisser melden sich zu Wort und behaupten, dass die Herdenimmunität eine, wenn auch potenziell riskante, Antwort auf die derzeitige Krise sein könnte. In vielen dieser Äußerungen wird angedeutet oder behauptet, dass ein gezieltes Hinsteuern in eine Herdenimmunität eine Möglichkeit sein könnte, die explosionsartige Ausbreitung der Pandemie zum Stillstand zu bringen.

All dies ist schlichtweg Unsinn. So sieht es zumindest der australische Epidemiologe Gideon Meyerowitz-Katz in einem Meinungsbeitrag auf der unabhängig betriebenen wissenschaftlichen Nachrichtenwebsite »ScienceAlert«. Und er resümiert weiter: »Herdenimmunität anzustreben, ohne einen Impfstoff verfügbar zu haben, ist per Definitionem keine Präventivmaßnahme.«

Was bedeutet Herdenimmunität?

Herdenimmunität ist ein epidemiologisches Konzept, das den Zustand beschreibt, in dem innerhalb einer Population Immunität gegen eine Infektionskrankheit soweit etabliert ist, dass die Infektionsdynamik in dieser Gruppe schließlich zum Stillstand kommt. Mit anderen Worten: Sind ausreichend Menschen entweder durch einen Impfschutz oder durch eine natürliche Immunität weder infizierbar noch infektiös, sind auch Menschen geschützt, die nicht gegen die Krankheit immun sind.

Im Falle von Mumps beispielsweise, für die eine Basis-Reproduktionsrate (R0) von 10 bis 12 angenommen wird, lässt sich ableiten, dass etwa 90 bis 92 Prozent der Bevölkerung immun sein müssen, um die Herdenimmunitätsschwelle zu erreichen. Interveniert man mithilfe einer Impfung, wird der Prozess deutlich beschleunigt. Es muss dann nicht mehr ein so hoher Prozentsatz der Population die Krankheit durchmachen, um Immunität zu erlangen, da diese zusätzlich durch Impfen erreicht wird.

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