Warum es sinnvoll ist, für den Ernstfall vorzusorgen |
Melanie Höhn |
29.11.2022 10:30 Uhr |
Stromausfall in Berlin-Köpenick im Jahr 2019 nach Bauarbeiten an der Allende-Brücke: Die Apotheke am Schloßplatz Köpenick arbeitete mit eingeschränktem Betrieb. / Foto: imago/Matthias Koch
Der Apotheker Sven Seißelberg ist davon überzeugt, dass es eine gute Vorbereitung für den Ernstfall braucht. »Wenn wir erst in einer Krise reagieren, ist es zu spät«, wie er sagt. Stromausfall sei kein neues Thema, aber seit Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine wieder in den Fokus gerückt. Es sei eine regelrechte Panik ausgebrochen, zwingend notwendig sei diese jedoch nicht. Seißelberg, der auch stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Notfall- und Katastrophenpharmazie bei der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPHG) ist, hatte das Thema mit der AG schon im Jahr 2017 auf die Agenda gehoben. Auch damals sei es schon absehbar gewesen, dass die Netze instabiler werden und es zu häufigeren Stromausfällen komme. Die AG dient der Sicherstellung einer bestmöglichen pharmazeutischen Versorgung der Bevölkerung bei Großschadensereignissen und Katastrophen sowie in sonstigen Ausnahmesituationen.
Apotheken haben laut Apothekengesetz einen Sicherstellungsauftrag, ihnen obliegt also die im öffentlichen Interesse gebotene Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, so Seißelberg. Auch in der Bundesapothekerordnung heißt es: »Der Apotheker ist berufen, die Bevölkerung ordnungsgemäß mit Arzneimitteln zu versorgen. Er dient damit der Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes.« Außerdem haben Apotheken laut Apothekenbetriebsordnung »die Arzneimittel und apothekenpflichtigen Medizinprodukte, die zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung notwendig sind, in einer Menge vorrätig zu halten, die mindestens dem durchschnittlichen Bedarf für eine Woche entspricht.«
Mehr als die Hälfte der Apotheker sei laut einer aktuellen Umfrage besorgt, dass es im kommenden Winter zu Stromausfällen komme. Man laufe »sehenden Auges« in ein Problem hinein, das man eigentlich beheben könne, und die logische Konsequenz müsse sein, dass man vorsorgt, so der Apotheker. Bei einem Blackout, also einem großflächigen Stromausfall, sei gleichzeitig eine große Menge Menschen betroffen. Problematisch werde es, wenn wichtige Strom- oder Hochspannungsleitungen beschädigt oder zerstört würden und der Strom flächendeckend und langanhaltend ausfalle. Betroffen seien dann nicht nur Haushalte, sondern auch Unternehmen, Krankenhäuser, Schulen und alle anderen Stromempfänger. Die meisten Apotheken könnten ohne Strom nicht mehr weiterarbeiten und würden geschlossen. Bis zu 24 Stunden nach dem Stromausfall würden kühlungspflichtige Medikamente, die bei einer Temperatur zwischen 2 und 8 Grad gelagert werden müssen, unbrauchbar. »Diese sind dann nur noch aus Krankenhäusern zu beziehen, deren Bestände zunehmend lückenhaft werden«, erklärt Seißelberg. Das sei jedoch problematisch, weil diese selbst keine Kapazitäten hätten. Deshalb komme es im Falle eines Stromausfalls zu einem massiven Problem im Bereich der kühlungspflichtigen Arzneimittel. Dramatisch würden sich die Engpässe bei Insulin, Blutprodukten und Dialysierflüssigkeiten auswirken.
Auch deshalb sei es wichtig, in das Notfallmanagement der Apotheke zu investieren. Ein zunächst wichtiger Impuls sei es, die Stromabrechnung und den Strombedarf zu checken. Wie viel verbrauche ich pro Jahr, Monat und Tag? Außerdem sollten die kritischen Prozesse in der Apotheke bestimmt werden: Was brauche ich für den rudimentärsten Betrieb meiner Apotheke? »Brauche ich die Schaufensterbeleuchtung oder 8 HV-Plätze?«, fragt Seißelmann. »90 Prozent der Apotheken kennen den Stromverbrauch ihrer kritischen Prozesse nicht«, kritisiert er. Auch sollte über den Ressourcenverbrauch nachgedacht werden. Die erste große Ressource sei das Personal: Wenn die Mitarbeiter beispielsweise in Berlin mit der S-Bahn zur Arbeit fahren, werde es schwierig, da diese bei Stromausfall nicht mehr fahren. Auch sollte man sich laut Seißelberg überlegen, was mit der Apotheke passiert, wenn der wenn Strom länger als vier Stunden ausfällt. Außerdem sei es wichtig, sich die Frage zu stellen, welche externen Schnittstellen Einwirkungen auf den Geschäftsbetrieb haben. »Vor allem mit dem pharmazeutischen Großhandel sollte über Erreichbarkeiten und Kommunikationswege im Vorhinein gesprochen werden«, sagt der Experte. Zudem sollten Apotheken testen, wie lange der Kühlschrank die Temperatur halten kann, wenn der Stecker gezogen ist. Weiterhin sollten vorbereitende Regelungen bei einem Ausfall der IT getroffen werden.
Auch über Kommunikationswege zu Ärzten, umliegenden Apotheken, Krankenhäusern und zu versorgenden Einheiten muss laut Seißelberg nachgedacht werden. Bestehen seitens der Apotheke bestimmte Lieferverträge? »Diese müssen auch im Ernstfall eingehalten werden«, warnt er. Auch sollte man im Vorfeld mit Behörden und Hilfsorganisationen reden. »Rechnen Sie aber nicht damit, dass die Feuerwehr oder das THW vor die Tür steht und Ihnen ein Notstromaggregat vor die Tür stellt. Vorher werden Kliniken oder Altenheime versorgt, da stehen Sie ganz hinten in der Reihe«, weiß der Apotheker. Das Thema Krisenkommunikation sollte ebenfalls mitgedacht werden: Wenn Apotheken die Öffnungszeiten einschränken, müsse das den Patientinnen und Patienten mitgeteilt werden.
Realistischerweise sei die Notstromversorgung in der Apotheke ein »teures Spiel«, so Seißelmann. Öffentliche Apotheken seien deshalb meist nicht damit ausgestattet. »Sie müssen erst einmal ein Notstromaggregat kaufen, dann die Betriebsstoffe dazu vorrätig halten und lagern.« Für kurzfristige Stromausfälle bis zu einem Tag sei dies kein Problem, »alles darüber hinaus können Sie vergessen. Das heißt, dann müssten Sie irgendwelche Vereinbarungen mit Tankstellen treffen, um prioritär beliefert zu werden. Das ist einfach nicht praktikabel«, erklärt er. »Wenn man es machen kann, ist es super, aber das Notstromaggregat ist der letzte Punkt, den man beachten sollte«. Für Schwerpunktapotheken könne ein solches Aggregat eine gute Lösung sein, hier seien jedoch eine entsprechende Dimensionierung zu beachten und bereits im Vorfeld Kooperationsmöglichkeiten zu prüfen, wie etwa die Einbindung der Aufsichtsbehörden, um gegebenenfalls Personal und Warenbestände flexibel zusammenzuführen. Für einzelstehende Apotheken sei es beispielsweise wichtig, über eine alternative Versorgung wie etwa Solaranlagen nachzudenken. Hierbei sei entscheidend, dass ein sogenannter Inselbetrieb möglich ist. Kann ich mich vom Netz abkoppeln und kann meine Solaranlage meine Apotheke versorgen? Außerdem empfiehlt Seißelberg, auf akkubetriebene Lampen in der Offizin zu setzen, die man gegebenenfalls per Hand wieder aufladen könne.
Generell sollte das Thema Risikomanagement als Führungsaufgabe in der Apotheke laut Seißelberg genauer betrachtet werden. Es müssten dabei unter anderem Kriterien festgelegt werden, nach denen die Risiken eingestuft und bewertet würden, aber auch Methoden der Risikoermittlung ermittelt und die Verantwortlichkeiten bei Risikoentscheidungen festgelegt werden. Risikomanagement müsse als fortlaufender Prozess verstanden werden, in dem Planung, Umsetzung, Überwachung und Verbesserung kontinuierlich stattfinden. Zudem müsse Risikomanagement über die gesamte Lebensdauer einer Organisation zur Anwendung kommen und eine Kultur der Risikolenkung in der Organisation entstehen lassen. Mit welchen Maßnahmen kann ich ein Risiko abwenden, um möglichst wenig Schaden für meinen Betrieb zu erreichen? Ein gut vorbereitetes Notfallmanagement könne keine Schadensereignisse verhindern, stelle aber sicher, dass im Schadensfall die bestmöglichen Entscheidungen getroffen werden können und Ressourcen optimal genutzt werden, so Seißelmann.
Das Notfallmanagement sollte seiner Meinung nach zwingend in das QM-System der Apotheke eingebettet werden, um eine regelmäßige Überprüfung sicherzustellen. »Es bringt nichts, einmal eine Checkliste irgendwo abzulegen, sondern man muss immer wieder in die Neubewertung gehen – Was hat sich verändert? Mit wem muss ich noch sprechen?«, empfiehlt er. Viele Maßnahmen des Notfallmanagements könnten im Rahmen des regulären Geschäftsbetriebes durchgeführt werden. Sein Fazit: »Wir sind wandlungs- und anpassungsfähig und neigen dazu, Katastrophen sehr schnell zu vergessen. Ich möchte an die aktuelle Pandemie erinnern, von der man nicht weiß, ob sie vorbei ist. Ich kann Sie nur animieren: Schauen Sie sich in ihrer Apotheke um, viele Sachen können im ruhigen Notdienst rekapituliert werden.«
Auch die Apothekerkammer Nordrhein hat in einem Schreiben Apothekerinnen und Apotheker dazu sensibilisiert, Vorbereitungen für den Fall eines Stromausfalls zu treffen und einige Punkte aufgelistet: