Wann sind Wachstumsstörungen behandlungsbedürftig? |
Daniela Hüttemann |
16.09.2020 09:05 Uhr |
Bis zum Schulalter überprüft der Kinderarzt regelmäßig Wachstum und Gewicht. Bei Auffälligkeiten sollte die Ursache abgeklärt werden. / Foto: Getty Images/Cavan Images
»Wachstum ist ein relativ komplexer Vorgang, der von vielen Faktoren beeinflusst wird«, erklärte Professor Dr. Joachim Wölfle, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderendokrinologie (DGKED), bei einer Pressekonferenz zur Deutschen Hormonwoche vom 12. bis 19. September, ausgerufen von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). »Wichtig ist, dass Eltern die Vorsorgeuntersuchungen für ihre Kinder wahrnehmen, bei der Größe, Gewicht und bei kleineren auch Kopfumfang gemessen und mit Normwerten verglichen werden. So können wir etwaige Störungen frühzeitig erkennen.« Er verwies hier auf eine Lücke zwischen der U9 kurz vor der Einschulung und der J1 im Jugendalter. Wölfle empfahl die beiden optionalen Untersuchungen, die U10 im Alter von sieben bis acht Jahren und U11 im Alter von neun bis zehn Jahren, wahrzunehmen. In seltenen Fällen entwickle sich genau in diesem Alter ein Hirntumor mit Einfluss auf das Längenwachstum.
Die Ursachen für Wachstumsstörungen, ob zu groß oder zu klein, sind vielfältig. Vor allem müssen organische Erkrankungen ausgeschlossen oder behandelt werden. »Zu Kleinwuchs können Mangel- oder Fehlernährung, aber auch zehrende Erkrankungen wie schweres Asthma, Mukoviszidose oder erworbene schwere Herzerkrankungen wie eine Herzinsuffizienz führen«, erläuterte Professor Dr. Matthias M. Weber, Mediensprecher der DGE und Leiter des Schwerpunktes Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen der Universitätsmedizin Mainz. »Zu den hormonbedingten Ursachen von Kleinwuchs gehören etwa die Unterfunktion der Schilddrüse, das Cushing-Syndrom, eine Rachitis, ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus oder ein Mangel an Wachstumshormon.« Hier richtet sich die Therapie nach der ursächlichen Erkrankung.
Kleinwuchs könne auch das Erstsymptom anderer schwerer Erkrankungen sein, zum Beispiel eine chronische Niereninsuffizienz oder auch Achondroplasie – eine seltene Erbkrankheit, bei der vor allem Oberarm- und Oberschenkelknochen verkürzt sind. »Der rasante Fortschritt in der genetischen Diagnostik erlaubte in der jüngeren Vergangenheit eine Identifizierung von Krankheitsursachen und bietet so die Möglichkeit für die Entwicklung von mehr zielgerichteten Therapien«, so Wölfle, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Erlangen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Auch Hochwuchs könne andere Begleiterkrankungen anzeigen, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, zum Beispiel das Marfan-Syndrom. Die Patienten litten nicht nur an einem überdurchschnittlichen Längenwachstum. Die Erkrankung gehe oft auch mit Fehlbildungen des Herz-Kreislauf-Systems wie Aussackungen der Aorta (Aneurysma) und Einrissen und Spaltbildung zwischen den Gefäßwänden der Hauptschlagader (Dissektionen) einher.
Wachstumsstörungen könnten tatsächlich auch psychisch bedingt sein – wie bei Günter Grass‹ Romanfigur Oskar aus »Der Blechtrommel«, ergänzte Wölfle.
Per Definition sind jeweils 3 Prozent aller Kinder klein- oder hochwüchsig, nämlich jeweils die untersten und obersten 3 Prozent auf den sogenannten Perzentilen-Tabellen. Dabei ist zu beachten, dass die Schnelligkeit des Wachstums auch von den verschiedenen Phasen bis ins Erwachsenenalter abhängt. Das schnellste Wachstum erfolge im Bauch der Mutter. Innerhalb von neun Monaten entwickelt sich die befruchtete Eizelle zu einem vollständigen kleinen Menschen von 46 bis 55 cm (3. bis 97. Perzentile) beim Mädchen und 47 bis 55,5 cm (3. bis 97. Perzentile) bei Jungen. »Nie wieder wächst ein Mensch so rasch wie in dieser Zeit«, erläuterte Kinderendokrinologe Wölfe. Schon hier ließen sich bei den Ultraschalluntersuchungen eventuelle Wachstumsstörungen feststellen.
Im ersten Lebensjahr wachsen Mädchen im Durchschnitt 24,5 cm und Jungen 25,5 cm. Dann nimmt die Wachstumsgeschwindigkeit allmählich ab – bis zum letzten Wachstumsschub in der Pubertät. Unter dem Einfluss der Sexualhormone komme es zu einem vermehrten Längenwachstum. Als Faustregel gelte, dass
Mädchen nach der ersten Monatsblutung noch etwa 4 bis 5 cm wachsen. »Für Jungen gibt es leider keinen entsprechenden Anhaltswert«, so Wölfle.
Eine Abweichung von der Norm bedeute nicht automatisch, dass das Kind krank ist, betonte der Experte. Oft handle es sich lediglich um Normvarianten von Größenwachstum, etwa als Folge von familiärer Veranlagung. Bei der Diagnose sollte man die Größe der anderen Familienmitglieder immer mitbeachten. Viele Kinder seien auch Früh- oder Spätentwickler. »Hier ist meist keine Therapie nötig, da die endgültige Körpergröße am Ende aufs selbe hinausläuft«, so Wölfle.
Viele Jahre sei vor allem vermeintlich großwüchsigen Mädchen großzügig eine Therapie mit Wachstumshormonen angeboten worden. Mittlerweile sei die gesellschaftliche Akzeptanz großer Frauen jedoch höher, sodass Hormone zurückhaltender eingesetzt werden, auch im Hinblick auf eine mögliche spätere Beeinträchtigung der Fertilität als Nebenwirkung. Wölfle plädierte hier eher für eine psychologische Betreuung oder gegebenenfalls chirurgische Eingriffe.