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Nicht-Tumorschmerzen

Wann Opioide angezeigt sind

Rund 70 Prozent der Opioide werden in Deutschland für Patienten mit chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen verordnet. Etwa 1 Prozent der Bevölkerung erhält diese Analgetika langfristig. Die aktuelle Leitlinie zur Opioid-Langzeitanwendung sieht das kritisch.
Brigitte M. Gensthaler
30.04.2020  08:00 Uhr

Im April legte die Deutsche Schmerzgesellschaft die aktualisierte S3-Leitlinie »Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen« (LONTS) vor, die sie gemeinsam mit zahlreichen Fachgesellschaften erarbeitet hat. Sie behandelt Einsatzgebiete und Grenzen einer Opioid-Therapie bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (CNTS). Die Leitlinienautoren unterscheiden den vier- bis zwölfwöchigen Einsatz von einer Langzeitanwendung, die länger als drei Monate andauert. Sie gehen nicht auf die Akuttherapie (kürzer als vier Wochen) ein.

Die Leitlinie nimmt Stellung zu selektiven Opioid-Agonisten  und zu Substanzen mit gemischten opioidergen und nicht-opioidergen Wirkmechanismen. Dazu zählen Wirkstoffe wie Buprenorphin, Fentanyl, Hydrocodon, Hydromorphon, Morphin, Oxycodon, Oxymorphon, Tapentadol und Tramadol. Nicht berücksichtigt sind Substanzen wie Ketamin und Methadon, die  in Deutschland nicht in der Langzeit-Schmerztherapie eingesetzt werden. 

Grundsätzlich sind Opioid-Analgetika nur angezeigt, wenn nicht-medikamentöse Therapien und andere Schmerzmittel nicht ausreichend wirksam waren oder nicht vertragen wurden. Zudem sollten sie nicht als alleinige Therapie, sondern immer als Teil eines Behandlungskonzepts gegeben werden. Die individuellen Therapieziele und die nötigen Maßnahmen sollten Behandler und Patient gemeinsam realistisch festlegen, schreiben die Schmerzexperten.

Bei der Behandlung von CNTS seien Opioide nicht generell wirksamer als andere Analgetika. Wörtlich heißt es in der Patientenversion der Leitlinie: »Opioide sind bei keinem chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzsyndrom die Mittel der Wahl.«

Indikationen für Opioid-Analgetika

Opioide sind eine Option für eine vier- bis zwölfwöchige Therapie bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie, Schmerzen in amputierten Gliedmaßen (Phantomschmerzen) und nach Gürtelrose (Post-zoster-Neuralgie) sowie bei chronischen Rücken- und Arthroseschmerzen. Für diese Indikationen gebe es eine ausreichende wissenschaftliche Datengrundlage zur Wirksamkeit und Sicherheit.

Konsensus-basiert oder als individueller Therapieversuch könne man eine Opioid-Gabe auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen erwägen, heißt es in der Leitlinie. Dazu zählen beispielsweise das Restless-legs-Syndrom, Schmerzen beim Parkinson-Syndrom, chronische Nervenschmerzen nach Nervenverletzungen, Schmerzen bei Osteoporose, Wirbelbrüchen oder entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, nach Operationen, bei tiefen Druckgeschwüren sowie Endometriose.

Konnte die Medikation bei all diesen Indikationen in der Einstellungsphase die Schmerzen deutlich lindern und/oder das Allgemeinbefinden des Patienten verbessern und war dabei gut verträglich, kann laut Leitlinie eine Langzeittherapie – im Einzelfall auch über mehrere Jahre – erwogen werden. Als Höchstdosis, die nur in Ausnahmefällen überschritten werden soll, geben die Experten 120 mg/Tag orales Morphinäquivalent an.

Wovon Experten abraten

Bei einer ganzen Reihe von Krankheiten raten die Experten von Opioid-Analgetika ausdrücklich ab, weil die Risiken höher sind als der Nutzen. Dazu zählen sie unter anderem Migräne und Spannungskopfschmerzen, funktionelle Störungen wie Reizdarm- und Fibromyalgiesyndrom sowie chronische Schmerzen als Leitsymptom psychischer Störungen, zum Beispiel bei anhaltender somatoformer Schmerzstörung, generalisierter Angststörung oder posttraumatischer Belastungsstörung.

Lösen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und eine chronische Pankreatitis die Pein aus, können Opioide kurzfristig im akuten Schub, aber nicht langfristig eingesetzt werden.

Klar abgeraten von Opioiden wird bei Suizidalität, Abhängigkeit oder Weitergabe von Medikamenten sowie erheblichen Zweifeln am korrekten Gebrauch. Auch bei Kindern und Jugendlichen sowie bei geplanter oder bestehender Schwangerschaft sind die Medikamente nicht angezeigt.

Auf Nebenwirkungen achten

Ausdrücklich geht die Leitlinie auf unerwünschte Wirkungen ein, die der Arzt auch mit dem Patienten besprechen sollte und die teilweise eine Prophylaxe oder Behandlung erfordern. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Übelkeit, Benommenheit, Obstipation, trockener Mund, Schwäche, Kopfschmerzen, Juckreiz und vermehrtes Schwitzen. Abgesehen von Obstipation und Hyperhidrose bilden sich diese jedoch meist nach zwei bis vier Wochen zurück.

Erhöhte Sturzgefahr und Verwirrtheit gefährden vor allem ältere Menschen. Ein Schlaf-Apnoe-Syndrom kann sich verschlechtern oder neu auftreten. Auch sexuelle Funktionsstörungen sind zu beachten. Patienten sollen in der Ein- und Umstellungsphase nicht Auto fahren und möglichst keine Maschinen bedienen.

Die Experten weisen auch in der Patientenversion der Leitlinie darauf hin, dass die Einnahme von Opioiden zu körperlicher Abhängigkeit führen kann (nicht muss). Das Risiko einer Suchtentwicklung sei bei bestimmungsgemäßem Gebrauch jedoch gering.

Wichtig für die Apothekenpraxis: Eine Langzeitmedikation mit Opioiden soll im bundeseinheitlichen Medikationsplan aufgenommen werden. Ist der Patient stabil eingestellt, sollte ein Wechsel auf ein Präparat mit anderer Pharmakokinetik und -dynamik nur nach Rücksprache mit dem Arzt und Aufklärung des Patienten erfolgen.

Wann ist Schluss?

Nach den Grundregeln zur Opioid-Therapie ist ein eigenes Kapitel deren schrittweiser Beendigung gewidmet. Diese sei nötig, wenn die individuellen Therapieziele in der Einstellungsphase oder in der Folge nicht erreicht werden oder bedeutsame Nebenwirkungen auftreten. Dies gilt ebenfalls, wenn andere Maßnahmen wie Operation, Bestrahlung oder Physiotherapie das Leiden ausreichend lindern, sowie bei Medikamenten-Missbrauch.

Nach sechs Monaten sollen Arzt und Patient über eine Dosisreduktion und/oder einen Auslassversuch sprechen. Ziel ist es, die Indikation und das Ansprechen auf begleitende nicht-medikamentöse Maßnahmen zu überprüfen.

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