Wahrheit braucht Realitätsbezug |
Jennifer Evans |
15.07.2022 07:00 Uhr |
Mund der Wahrheit: Einer mittelalterlichen Legende zufolge verliert jeder seine Hand, der sie in den Steinmund legt und dabei lügt. Das rund 2000 Jahre alte Marmor-Relief »Bocca della Verità« befindet sich in Rom. / Foto: Adobe Stock/emperorcosar
Ist Wahrheit relativ? Nein, sagt Dr. Philipp Blum, Philosoph und Mathematiker an der Universität Zürich. Aussagen sind wahr, wenn die Wortbedeutung der Wirklichkeit entspricht. Denn die Bedeutung stellt gewisse Bedingungen an die Realität, die erfüllt sein müssen, damit eine Aussage wahr ist. »Ob etwas wahr ist, hängt also von der Realität ab«, so Blum. Oder anders: Wahrheit braucht Realitätsbezug. Damit ist die Wahrheit seiner Auffassung nach für jeden überall auf der Welt gleich – unabhängig von Ort, Zeit, Geschlecht oder Kultur. Und erst wenn sich die Realität verändert, verändert sich auch die Wahrheit. Ein Beispiel: Als sich herausstellte, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist.
In den abendlichen Gesprächsrunden in der Komischen Oper Berlin, die regelmäßig gemeinsam mit der Schering Stiftung stattfinden, diskutieren Experten aus Geistes- und Naturwissenschaften. Vorbild des Veranstaltungsformats sind die Salons des 19. Jahrhunderts. Sie waren gesellschaftliche Treffpunkte für Musik, Literatur, Politik und Wissenschaft.
Doch wozu benötigt man nun eigentlich ein Idealbild von Wahrheit? »Weil sie allen Tätigkeiten einen Sinn gibt«, meint Blum, dessen Schwerpunkt neben der Metaphysik unter anderem die analytische Philosophie ist. Die Wahrheit sei in jeder Hinsicht wertvoll, auch wenn sie schädlich sei. Jeder Fortschritt bewege sich folglich in Richtung Wahrheit, resümierte er.
Das Streben nach der Wahrheit ist auch das Herzstück der Wissenschaft. Jedoch ist jedem Forscher bewusst, dass er niemals die absolute Wahrheit erreichen kann. Mit diesem Spannungsfeld lebe die Wissenschaft, betonte die Medizinhistorikerin und -philosophin Dr. Lara Keuck. Sie arbeitet am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und untersucht, wie sich das Wissen über Krankheiten sowie die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts verändert haben.
Was macht eine Schizophrenie aus und was verstehen Mediziner darunter? Und spielt bei der Krankheitsdefinition womöglich der kulturelle Hintergrund der Forscher eine Rolle? Mit Fragen wie diesen befasst sich Keuck bei ihrer Arbeit. In ihren Augen ist es extrem wichtig, zunächst zu klären, ob alle Beteiligten über dasselbe reden. Sie verdeutlicht das Problem so: Wie soll ein Laborarbeiter einen Mechanismus gegen Alzheimer finden, wenn noch eindeutig klar ist, was die Krankheit genau ausmacht.
Seit der Zeit von Medizinern wie Robert Koch oder Rudolf Virchow hat sich Keuck zufolge die Vorstellung davon verändert, wodurch sich gute Wissenshaft bemessen lässt oder Expertise auszeichnet. Heute gelte es in einer wissenschaftlichen Debatte um eine Krankheit viel mehr, auch weitere Stimmen zu hören. Zum Beispiel von Patienten, die eine Schizophrenie womöglich anders erleben, als sie die Wissenschaft von außen beschreibt. In diesem Zusammenhang stellen sich für die Medizinhistorikerin weitere Fragen. Lässt sich eine Krankheit eigentlich losgelöst von Mensch oder Tier definieren oder muss sich die Wissenschaft zwangsläufig am Menschen bewahrheiten?
Keuck hat beobachtet, dass der Fokus auf die Wahrheit in der medizinischen Wissenschaft inzwischen immer häufiger im Hintergrund steht. Wichtiger sei stattdessen geworden, sich auf gemeinsame Kategorien zu verständigen, um sich auf diese Weise wahren Aussagen zu nähern. »Der Fortschritt liegt in der gegensätzlichen Auffassung«, sagte sie.
Mit Blum teilt sie aber die Ansicht, dass die Medizin – genau wie die Philosophie – nicht ohne das Ideal von Wahrheit auskomme, weil erst diese der Arbeit Sinn schenke.