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Antikonvulsiva

Viel mehr als nur Krampfschutz

Antikonvulsiva oder Antiepileptika wurden zur Verhinderung von zerebralen Krampfanfällen entwickelt. Doch die umfangreiche Stoffgruppe kann noch viel mehr. Ein Überblick über Indikationen jenseits der Epilepsie.
Martina Hahn
Sibylle C. Roll
18.12.2022  08:00 Uhr

Das erste Antikonvulsivum Phenobarbital wurde bereits vor mehr als 100 Jahren auf den Markt gebracht. Seitdem wurden viele neue Wirkstoffe entwickelt und zugelassen. Heute fasst man unter dem Oberbegriff »Antikonvulsiva« eine sehr heterogene Arzneistoffgruppe zusammen, deren Vertreter sich chemisch, pharmakologisch und toxikologisch stark voneinander unterscheiden (Tabelle 1).

Antikonvulsiva werden bei Weitem nicht nur bei Epilepsie, sondern in vielen Indikationsgebieten eingesetzt. Dabei handelt es sich oft um einen Off-Label-Gebrauch. In vielen Leitlinien gibt es jedoch positive Empfehlungen, gerade in Indikationen, in denen andere Therapieoptionen fehlen und eine Symptomlinderung erzielt werden kann. So entwickelten sich die »Antiepileptika« zu einer vielseitig verwendeten Wirkstoffgruppe. Ähnliches gilt nur noch für Antidepressiva, die auch bei zahlreichen Indikationen – häufig off Label – eingesetzt werden.

Stoffgruppe Beispiele
Barbiturate Phenobarbital, Primidon
Hydantoine Phenytoin
Succinimide Ethosuximid, Mesuximid
Benzodiazepine Clonazepam, Diazepam
Carbamate Cenobamat, Felbamat
Carboxamide Carbamazepin, Oxcarbazepin, Eslicarbazepin, Rufinamid
Racetame Brivaracetam, Levetiracetam
Fettsäuren Valproinsäure
GABA-Derivate (ohne GABA-Wirkung) Gabapentin, Pregabalin, Vigabatrin
AMPA-Rezeptor-Antagonisten Perampanel
Phenyltriazine Lamotrigin
Salze Kaliumbromid
Sulfonamid-Derivate Sultiam, Zonisamid
Amide Lacosamid
Sulfamat-substituierte Monosaccharide Topiramat
Cannabinoide Cannabidiol
Tabelle 1: Wirkstoffgruppen, die unter dem Oberbegriff Antikonvulsiva oder Antiepileptika zusammengefasst werden

Leidet ein Epilepsiepatient an Komorbiditäten, sollte dies bei der Auswahl des Antikonvulsivums immer berücksichtigt werden. So kann man eventuell synergistische Effekte nutzen und zudem unerwünschte Wirkungen auf die Begleiterkrankungen verhindern. Antikonvulsiva haben ein breites Interaktionsspektrum, sodass immer auch eine Komedikation bei der Auswahl des Antikonvulsivums berücksichtigt werden muss. Grundsätzlich muss die Auswahl des geeigneten Medikaments immer patientenindividuell erfolgen.

Wirkweise: Reduktion neuronaler Entladung

Alle Antikonvulsiva reduzieren die neuronale Entladungsfrequenz und erschweren die Reizweiterleitung. Dies betrifft das periphere und das zentrale Nervensystem.

Unterteilen kann man Antikonvulsiva aufgrund von zwei unterschiedlichen Wirkmechanismen: Substanzen mit antiglutamaterger Wirkung (anti-exzitatorischer) und Substanzen mit GABA-erger (inhibitorischer) Wirkung. GABA-erge Antikonvulsiva wie Lorazepam, Diazepam oder Alprazolam haben ihre Bedeutung eher in der Anxiolyse, zum Beispiel bei Myokardinfarkt, vor Operationen oder in psychiatrischen Notfällen. Antiglutamaterge Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Lamotrigin, Topiramat, Pregabalin, Gabapentin oder Valproat kommen eher als Stimmungsstabilisatoren, in der Schmerztherapie als Koanalgetika und in der Migräneprophylaxe zum Einsatz.

Während die Wirkweise der Antikonvulsiva als Antiepileptika, Anxiolytika und Analgetika dadurch gut erklärbar ist, ist noch relativ wenig bekannt zur stimmungsstabilisierenden Wirkung bei bipolarer Störung.

Antikonvulsiva sind bei vielen Epilepsieformen unverzichtbar, um Häufigkeit und Schwere der Krampfanfälle zu reduzieren. / Foto: Adobe Stock/Satjawat
Wirkstoffe aus der Gruppe der Antikonvulsiva kommen auch bei neuropathischen Schmerzen oder Trigeminusneuralgie zum Einsatz. / Foto: Adobe Stock/missty

Hemmung der Schmerzweiterleitung

Ein wichtiges Indikationsgebiet außerhalb der Epilepsie ist die Behandlung von neuropathischen Schmerzen, Post-Zoster-Schmerzen und Fibromyalgie. Wie wirken Antikonvulsiva hier?

Grundsätzlich unterscheidet man nozizeptive von neuropathischen und noziplastischen Schmerzen. Beim nozizeptiven Schmerz, der in allen Geweben ausgelöst werden kann, melden Rezeptoren (»Nozizeptoren«) eine thermische, chemische oder mechanische Reizung des Gewebes. Beispiele sind Schmerzen nach Knochenbrüchen, Operationen, Hautverletzungen oder Gelenkerkrankungen. Werden Nervenfasern geschädigt, spricht man vom neuropathischen Schmerz, der oft brennend oder stechend ist. Minussymptome (sensible Defizite wie Hypästhesie und Hypalgesie) und Plussymptome (brennende Schmerzen, insbesondere in Ruhe, einschießende Schmerzattacken, Allodynie, Hyperalgesie) liegen nebeneinander vor. Beim noziplastischen Schmerz kann keine Schädigung des Gewebes festgestellt werden und dennoch eine veränderte Nozizeption bestehen.

Neuropathische Schmerzen neigen zur Chronifizierung, da durch die Sensibilisierung ständig unkontrollierte Schmerzreize generiert werden. Hierdurch kann es zu einer peripheren (periphere Nervenfasern feuern vermehrt Schmerzsignale) und einer zentralen Sensibilisierung (adaptive Veränderungen im Gehirn: »wind up«) kommen. Das eigentliche Schmerzgeschehen koppelt sich durch die Veränderungen im ZNS immer weiter von der Schmerzursache ab: Es entsteht ein chronischer Schmerz.

Es gilt daher, neuropathische Schmerzen zügig zu lindern, um diese adaptiven Veränderungen möglichst schnell zu stoppen und die Chronifizierung zu unterbinden. Gerade die Koanalgetika können Schmerzreize reduzieren, die wiederum die neuropathischen Veränderungen hervorrufen. So werden hyperaktive Nervenfasern beruhigt und die körpereigene Schmerzhemmung unterstützt.

Antikonvulsiva vermindern die Weiterleitung von Schmerzreizen und können die neuronale Aktivität geschädigter Nervenzellen abschwächen. Antikonvulsiva wirken daher besonders auf neuropathische Schmerzen. Erzielt wird das durch die Blockade von spannungsabhängigen Ionenkanälen, sodass das Membranpotenzial des Neurons stabilisiert wird (1).

In der Behandlung von neuropathischen Schmerzen, Post-Zoster-Schmerzen und Fibromyalgie werden folgende Wirkmechanismen diskutiert. Carbamazepin vermindert die neuronale Entladungsfrequenz durch die Blockade von Natriumkanälen und führt so zu einer Schmerzlinderung (1). Bei Pregabalin und Gabapentin erfolgt die reduzierte Entladungsfrequenz durch verminderten Calciumeinstrom durch spannungsabhängige Calcium-Ionenkanäle und eine GABA-erge Wirkung (1, 2). Dadurch werden weniger exzitatorische Neurotransmitter freigesetzt, was die neuronale Aktivität vermindert. Dieser Mechanismus liegt möglicherweise der antikonvulsiven, der anxiolytischen und der antinozizeptiven Wirkung bei neuropathischem Schmerz zugrunde. Topiramat vereint die genannten Effekte auf Calcium- und Natriumkanäle und wirkt GABA-erg sowie antiglutamaterg (3). Zusätzlich blockiert es postsynaptische AMPA-Rezeptoren (3).

Zudem können Antikonvulsiva und andere Koanalgetika wie die Antidepressiva auf Neurotransmitter einwirken, die Schmerzreize an den Synapsen weiterleiten.

Neuropathische Schmerzen

Erste Wahl bei neuropathischen Schmerzen sind Gabapentin und Pregabalin (4) (Tabelle 2). Gabapentin hat eine schlechte orale Bioverfügbarkeit, weshalb deutlich höhere Dosierungen erforderlich sind. Zudem führt seine Pharmakokinetik aufgrund von sättigbaren Transportern bei der Absorption und an der Blut-Hirn-Schranke dazu, dass Wirkung (und Nebenwirkung) nicht linear verlaufen. Die Einstellung muss daher in kleineren Schritten erfolgen und dauert länger. Pregabalin wird über nicht sättigbare Transporter aufgenommen, sodass eine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung besteht.

Hinsichtlich des Missbrauchspotenzials der Gabapentinoide konnte gezeigt werden, dass dies nur bei Menschen mit Abhängigkeit von Opioiden bedeutsam ist (5). Andere Studien beschreiben jedoch auch einen möglichen Zusammenhang bei Menschen mit Benzodiazepin- und Alkoholabhängigkeit (6). Eine Abhängigkeit bei Menschen ohne Suchterkrankung in der Vorgeschichte ist extrem unwahrscheinlich. Patienten sollten entsprechend beruhigt werden, wenn sie durch den Hinweis in der Packungsbeilage verunsichert sind.

Indikation In Deutschland für die Indikation zugelassene Antikonvulsiva Leitlinienempfehlung*
neuropathische Schmerzen Carbamazepin, Pregabalin, Gabapentin, Phenytoin Pregabalin, Gabapentin (für beide gilt: soll),
Carbamazepin und Oxcarbazepin (können nicht generell empfohlen werden),
Lamotrigin (kann nicht generell empfohlen werden),
Lacosamid (kann nicht empfohlen werden),
Phenytoin, Levetiracetam, Topiramat (für alle gilt: sollte nicht),
Benzodiazepine (sollten nicht),
Cannabinoide (können nicht empfohlen werden)
Trigeminusneuralgie Carbamazepin Carbamazepin (erste Wahl),
Oxcarbazepin, Valproat, Topiramat, Pregabalin, Gabapentin, Lamotrigin, Phenytoin, Clonazepam (Leitlinie in Aktualisierung, derzeit nicht abrufbar)
Post-Zoster-Neuralgie Gabapentin Pregabalin, Gabapentin (für beide gilt: soll)
Fibromyalgie keine Pregabalin (soll)
Akutbehandlung der Migräne keine Benzodiazepine (abratend)
Migräneprophylaxe Topiramat Valproat, Topiramat (für beide gilt: wirksam)
Prophylaxe von Cluster-Kopfschmerzen keine Topiramat (Mittel der zweiten Wahl),
Valproat (Mittel der dritten Wahl)
Prophylaxe von SUNCT (short-lasting unilaterial neuralgiform headache with conjunctival injection and tearing) keine Lamotrigin (Mittel der Wahl),
Topiramat, Valproat, Gabapentin, Carbamazepin, Oxcarbazepin (für alle gilt: wirksam)
Diabetische Neuropathie Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin Gabapentin (kann),
Pregabalin (sollte),
Carbamazepin (kann nicht empfohlen werden),
Oxcarbazepin, Zonisamid, Valproat (für alle gilt: soll nicht)
Lacosamid, Lamotrigin, Topiramat (für alle gilt: sollte nicht)
Tabelle 2: Antikonvulsiva zur Schmerztherapie

Beide Wirkstoffe werden nicht metabolisiert, sondern nur renal eliminiert, sodass sie ein günstiges Interaktionspotenzial haben. Bei Niereninsuffizienz muss eine Dosisanpassung erfolgen.

Topiramat, Oxcarbazepin und Carbamazepin werden von der Leitlinienkommission in dieser Indikation aufgrund eines schlechten Risiko-Nutzen-Verhältnisses nicht mehr empfohlen (4).

Trigeminusneuralgie

Die Schmerzlinderung durch Carbamazepin bei einer Trigeminusneuralgie kommt wahrscheinlich durch die Hemmung der synaptischen Reizübertragung im spinalen Trigeminuskern zustande. Die empfohlene Dosis liegt mit maximal 1200 mg/Tag etwas niedriger als für die Epilepsiebehandlung mit 1600 mg/Tag. Während Carbamazepin in der Behandlung von neuropathischen Schmerzen nicht mehr empfohlen wird, ist es bei der Trigeminusneuralgie noch immer Mittel der ersten Wahl (4).

Phenytoin wird zwar aufgrund der engen therapeutischen Breite und des Nebenwirkungs- und Interaktionsprofils selten eingesetzt, stellt aber eine Medikation der ersten Wahl in dieser Indikation dar. Als zweite Wahl ist ein Versuch mit Pregabalin oder Gabapentin möglich.

Diabetische Neuropathie

Anhaltende Hyperglykämie kann durch nicht enzymatische Glykierung sowie mikroangiopathisch bedingte lokale Ischämien zu Schäden an den Nerven führen. Die Beschwerden beginnen meist beidseitig an den Füßen, zum Beispiel mit Kribbeln oder einem tauben Gefühl. Typisch sind ferner eine schlechte Wahrnehmung von Kälte und Wärme sowie Wunden, die nicht schmerzen.

Man unterscheidet eine sensomotorische Neuropathie, bei der das Schmerz-, Temperatur- und Berührungsempfinden gestört sind, und eine autonome oder vegetative Neuropathie, bei der Organfunktionen gestört sein können. Letztere zeigt sich zum Beispiel in Verdauungs- und Blasenentleerungsstörungen oder sexuellen Funktionsstörungen. Zur Reduktion der Symptome der sensomotorischen Neuropathie, zu denen insbesondere Schmerzen, Parästhesien und Taubheitsgefühle der unteren Extremitäten zählen, können Pregabalin und Gabapentin eingesetzt werden.

Zur Therapie empfiehlt die Leitlinie »Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter« nur Duloxetin und Pregabalin. »Sollte nicht«-Empfehlungen umfassen andere Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lacosamid, Zonisamid, Lamotrigin, Topiramat und Valproat (7).

Post-Zoster-Neuralgie

Schmerzen nach einer Zoster-Infektion treten als Folge von Ganglionitiden auf. Von einer Post-Zoster-Neuralgie spricht man, wenn die Schmerzen länger als drei Monate nach der Erkrankung anhalten. Betroffene leiden stark unter den rumpfbetonten Schmerzen. Je nachdem, ob es sich um einen nozizeptiven (durch akute Entzündungsreaktionen ausgelöst, meist zu Erkrankungsbeginn), einen neuropathischen (durch axonale Ausbreitung des Virus, im späteren Verlauf) oder gemischt nozizeptiven-neuropathischen Schmerz handelt, wird die Therapie ausgewählt.

Beim akuten nozizeptiven Schmerz wird nach dem WHO-Stufenschema therapiert (NSAR, Nicht-Opioid-Analgetika, Opioide). Beim neuropathischen Post-Zoster-Schmerz empfiehlt die S2-Leitlinie der AWMF den Einsatz von Pregabalin oder Gabapentin gleichermaßen, wobei nur Gabapentin in dieser Indikation zugelassen ist (9). Beide Wirkstoffe stellen die Therapie der ersten Wahl dar.

Fibromyalgie, ein myofasziales Schmerzsyndrom

Die Fibromyalgie ist eine Erkrankung, die mit Schmerzen in verschiedenen Körperregionen einhergeht. Es ist die häufigste generalisierte Form von Muskelschmerzen. Die Schmerzen treten häufig in der Umgebung von Gelenken auf, zum Beispiel an Schultern, Ellenbogen und Händen.

Die genauen Ursachen einer Fibromyalgie sind unbekannt (8). Die Patienten fühlen sich steif und unbeweglich und können sich vor Schmerzen schlecht bewegen.

Pregabalin und Gabapentin sind mögliche Therapieoptionen neben selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SSNRI) wie Duloxetin und Milnacipran sowie dem Trizyklikum Amitriptylin. Pregabalin ist in Studien gut wirksam und daher in vielen Ländern in dieser Indikation auch zugelassen (9). Die Evidenzlage für Gabapentin ist schlechter; es sollte daher als letzte Wahl eingesetzt werden (10, 11).

Prophylaxe von Migräne und Cluster-Kopfschmerz

Die Antikonvulsiva Valproat und Topiramat eignen sich nicht in der Akut-, sondern nur in der prophylaktischen Behandlung von Migräne. Die Wirkung zeigt sich erst nach etwa zweimonatiger regelmäßiger Einnahme. Als Wirkmechanismus werden auch hier die Blockade von Calcium- und Natriumkanälen (Inhibition der Exzitation), eine verstärkte neuronale Inhibition sowie die Modulation der Neurotransmitter diskutiert (12). Darüber hinaus wird vermutet, dass Antikonvulsiva eine bestimmte Hirnwelle (Corticale spreading depression, CSD) verhindern, die sich bei Migränepatienten bildet und sehr langsam in verschiedene Gehirnareale ausbreitet; dies vermindert die Anfallshäufigkeit (13).

Topiramat wird ebenfalls erfolgreich bei Clusterkopfschmerzen eingesetzt und stellt das Prophylaktikum der zweiten Wahl dar (erste Wahl: Verapamil). Im Einzelfall kann ein Behandlungsversuch mit Valproat unternommen werden (14).

Ebenfalls zu den Kopfschmerzen gehört das SUNCT-Syndrom (short-lasting unilateral neuralgiform headache with conjunctival injection and tearing). Lamotrigin in einer Dosis von mindestens 100 bis 200 mg ist das Mittel der Wahl (14). Als Mittel der zweiten und dritten Wahl stehen Gabapentin, Valproat und Topiramat zur Verfügung.

Restless Legs: quälender Bewegungsdrang der Beine

Nach neueren Erkenntnissen scheint bei dieser Erkrankung der Eisenstoffwechsel entscheidend zu sein, sodass eine Eisensubstitution das Mittel der ersten Wahl zur Behandlung eines Restless-Legs-Syndroms (RLS) ist. Die Verschreibung von Gabapentinoiden bei RLS kann bei besonders schmerzhafter Ausprägung sowie bei Impulskontrollstörungen unter Dopaminagonisten oder einer Angsterkrankung als Komorbidität gerechtfertigt sein (Tabelle 3). Gabapentinoide können den Einsatz von Levodopa hinauszögern, stellen aber eine Off-label-Therapie im Gegensatz zu Dopaminagonisten dar.

Indikation In Deutschland für die Indikation zugelassene Antikonvulsiva Leitlinienempfehlung*
Restless-Legs-Syndrom keine Pregabalin, Gabapentin (für beide gilt: wirksam)
essenzieller Tremor keine Primidon, Topiramat (für beide gilt: soll),
Pregabalin, Gabapentin (für beide gilt: soll nicht)
Reizdarmsyndrom keine Pregabalin (soll nicht)
Multiple Sklerose keine bei Augenbewegungsstörungen: Gabapentin (kann).
Bei epileptischen Anfällen: Carbamazepin (soll nicht)
menopausale und perimenopausale Beschwerden keine gegen Hitzewallungen (hot flushes): Gabapentin (»Option bei Gegenanzeigen für Hormonersatztherapie«)
Tabelle 3: Antikonvulsiva bei Restless-Legs-Syndrom und anderen Erkrankungen

Gabapentin ist wirksam in Dosen von 800 mg bis maximal 1800 mg, verteilt auf mehrere Einzelgaben pro Tag; es sollte auftitriert werden (15). Pregabalin ist bei moderatem bis schwergradigem RLS wirksam. Der Patient nimmt Dosierungen zwischen 150 und 450 mg einmal täglich eine bis drei Stunden vor dem Zubettgehen ein (15). Beide Substanzen werden renal eliminiert, weshalb die Dosis bei Niereninsuffizienz angepasst werden muss.

Essenzieller Tremor

Weder die Ursache für essenziellen Tremor noch der genaue Wirkmechanismus der Pharmaka sind bekannt. Vermutet wird eine Kommunikationsstörung zwischen verschiedenen Hirnarealen wie Hirnstamm und Kleinhirn. Die Therapien sind rein symptomatisch.

Medikamente erster Wahl zur Behandlung des essenziellen Tremors sind Propranolol (30 bis 240 mg) sowie die Antikonvulsiva Primidon (62,5 bis 750 mg) und Topiramat (200 bis 400 mg) (beide off Label). Die Antitremor-Wirksamkeit der drei Pharmaka liegt zwischen 35 und 60 Prozent. Die Auswahl der individuell geeigneten Intervention orientiert sich an Kontraindikationen, Komorbiditäten, der Komedikation und der individuellen Verträglichkeit (16).

Angsterkrankungen: nur im Notfall Benzodiazepine

Angsterkrankungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Benzodiazepine wirken schnell und hervorragend angstlösend und werden daher auch in der Operationsvorbereitung gemäß Zulassung eingesetzt. Bei der generalisierten Angsterkrankung (GAD), bei sozialer Phobie oder Panikattacken sollten diese GABA-erg wirkenden Pharmaka aber nicht zur Behandlung eingesetzt werden (Tabelle 4) (17). Es besteht ein starkes Abhängigkeitsrisiko, die Teilnahme am Straßenverkehr ist beeinträchtigt und es treten häufiger Stürze auf. Zudem beeinträchtigen Benzodiazepine die kognitive Leistungsfähigkeit.

Pregabalin (zugelassen bei GAD) stellt eine wesentlich günstigere Alternative dar, insbesondere wenn selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) nicht gut vertragen wurden sowie in Kombination mit SSRI. Die Eindosierung sollte mit 25 mg begonnen und langsam gesteigert werden, um Sedierung und Benommenheit zu reduzieren oder zu vermeiden. Die Wirkung setzt innerhalb weniger Tage ein.

Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit werden wegen des Sturzrisikos bei älteren Menschen auf der Priscus-Liste als ungünstig eingestuft (18). Andere Antikonvulsiva kommen bei Angsterkrankungen nicht in Betracht.

Schizophrenie

Bei ausgeprägten Angst- und Unruhezuständen im Rahmen einer Psychose können Benzodiazepine kurzfristig sinnvoll sein. Unverzichtbar sind sie in der Therapie der katatonen Schizophrenie; hier empfiehlt auch die Leitlinie den Einsatz. Bei Behandlungsresistenz, das heißt Unwirksamkeit von Antipsychotika, werden manchmal Valproat, Lamotrigin oder Carbamazepin eingesetzt. Hinreichende Evidenz für dieses Vorgehen gibt es jedoch nicht und die S3-Leitlinie Schizophrenie rät, diese Substanzen »bei Behandlungsresistenz nicht als Regelbehandlung anzubieten«.

Topiramat kann off Label zur Gewichtsreduktion bei Menschen mit Schizophrenie eingesetzt werden. Die Leitlinie empfiehlt es als Mittel der zweiten Wahl; die erste Wahl ist Metformin.

Bipolare Erkrankung

Bei der bipolar affektiven Erkrankung wechseln Depressionen mit manischen oder hypomanischen Episoden ab. Um die Stimmung zu stabilisieren, kommen insbesondere Antikonvulsiva, Antipsychotika und Lithium in Betracht (19). Während Carbamazepin (Manie und Depression) und Lamotrigin (Depression) nur für die Phasenprophylaxe zugelassen sind, kann Valproat zur Phasenprophylaxe (Manie und Depression) und in der Akutbehandlung der Manie eingesetzt werden (Tabelle 4).

Antikonvulsiva sind in der Evidenz gleichwertig zu Antipsychotika bei bipolar affektiver Erkrankung, wobei nur Quetiapin retard (akute Depression) und Lithium (Phasenprophylaxe) einen höheren Empfehlungsgrad als die Antikonvulsiva haben.

Bei Carbamazepin sind aufgrund seiner CYP-induzierenden Eigenschaften zahlreiche Interaktionen möglich. Lamotrigin wirkt nur in der Prophylaxe der Depression, sodass in akuten Phasen immer eine Kombinationstherapie erfolgen muss. Valproat darf bei Frauen im gebärfähigen Alter aufgrund der Teratogenität nicht eingesetzt werden. Auch Carbamazepin ist diesbezüglich ungünstig. Hier bieten Antipsychotika und Lithium eine wertvolle Alternative, sodass Antikonvulsiva in der Bedeutung eher in den Hintergrund geraten.

Nebenwirkungen

Durch die ZNS-Gängigkeit der Antikonvulsiva treten insbesondere zentralnervöse Nebenwirkungen auf, die die Patienten als sehr störend empfinden und die die Lebensqualität sehr stark einschränken können (Tabelle 5). Weniger spürbar, jedoch riskanter sind potenzielle Blutbildveränderungen und Leberwerterhöhungen, die unter dieser Wirkstoffgruppe auftreten können. Eine regelmäßige Laborkontrolle ist daher extrem wichtig.

Indikation In Deutschland für die Indikation zugelassene Antikonvulsiva Leitlinienempfehlung*
Generalisierte Angsterkrankung Pregabalin Pregabalin (sollte),
Benzodiazepine (abratend)
Bipolare Erkrankung Carbamazepin, Valproat, Lamotrigin akute Depression: Carbamazepin (kann), Lamotrigin (kann), Valproat (abratend)
akute Manie: Carbamazepin (sollte), Valproat (sollte), Lamotrigin (keine Empfehlung), Oxcarbazepin (keine Empfehlung), Topiramat (abratend), Levetiracetam (abratend), Gabapentin (abratend), Benzodiazepine (kann, nur kurzfristig)
Phasenprophylaxe: Carbamazepin (kann), Lamotrigin (sollte), Valproat (sollte), Gabapentin (keine Empfehlung)
Schizophrenie Benzodiazepine (bei Erregungszuständen) Carbamazepin, Lamotrigin, Valproat (für alle gilt: soll nicht),
Benzodiazepine (bei Erregungszuständen: kann, aber zeitlich begrenzt, bei katatoner Schizophrenie: kann, bei Schlafstörungen: nur zeitlich befristet)
Gewichtsreduktion bei Menschen mit Schizophrenie keine Topiramat (soll)
Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) keine Valproat, Benzodiazepine, Topiramat, Tiagabin (für alle gilt: soll nicht)
Impulskontrollstörung im Rahmen von Intelligenzminderungen keine Valproat, Topiramat (für beide gilt: wirksam)
Angstzustände (akute Suizidalität, psychiatrischer Notfall) Benzodiazepine Lorazepam, Diazepam (für beide gilt: wirksam)
Soziale Phobie keine Pregabalin (wirksam)
Depression (unipolar) keine Benzodiazepine, alle Antikonvulsiva (für alle gilt: abratend)
Zwangsstörungen keine Benzodiazepine, Topiramat, Pregabalin, Lamotrigin (für alle gilt: soll nicht)
Tourette, Tic-Störungen keine Topiramat (kann als Reservemedikament eingesetzt werden)
Autismus keine Levetiracetam, Valproat, Lamotrigin, Topiramat (für alle gilt: soll nicht eingesetzt werden)
Alkoholentzugssyndrom Carbamazepin Benzodiazepine (soll), Antikonvulsiva (sollte)
Insomnie Benzodiazepine Benzodiazepine (soll, kurzfristig)
Multiple Sklerose keine bei Augenbewegungsstörungen: Gabapentin (kann).
Bei epileptischen Anfällen: Carbamazepin (soll nicht)
Tabelle 4: Antikonvulsiva bei psychiatrischen Erkrankungen

Das Apothekenteam muss über Nebenwirkungen von Antikonvulsiva insbesondere bei der Erstabgabe informieren. Einige Effekte wie Sedierung und Benommenheit lassen im Verlauf der Therapie nach. Bei anderen Nebenwirkungen, zum Beispiel allergischen Hautreaktionen, sollte der Patient sofort Kontakt zum Arzt aufnehmen beziehungsweise sich in der Notaufnahme vorstellen. Diese Beratungshinweise bei Erstabgabe sind essenziell, da ein letaler Verlauf möglich ist.

Immer zu beachten

Frauen im gebärfähigen Alter sollten Valproat wegen des hohen teratogenen Risikos nicht erhalten. Im Ausnahmefall ist eine Gabe nur unter strikter Kontrazeption möglich. Carbamazepin ist ebenfalls ein Teratogen und sollte daher nur unter großer Vorsicht angewendet werden. Kontrazeptiva werden zudem in der Wirkung abgeschwächt (CYP-Induktion), was bei der Wahl des Kontrazeptivums und der Kontrazeptionsmethode berücksichtigt werden muss. Tritt doch eine Schwangerschaft auf, muss sofort hoch dosiert Folsäure substituiert werden. Topiramat scheint das Fehlbildungsrisiko ebenfalls zu erhöhen und sollte daher möglichst vermieden werden.

Lamotrigin hingegen ist das Antikonvulsivum der Wahl für Frauen im gebärfähigen Alter. Grundsätzlich sollte vor Beginn einer antikonvulsiven Therapie ein Schwangerschaftstest erfolgen.

Klassische Antikonvulsiva wie Valproat, Phenytoin und Carbamazepin haben eine enge therapeutische Breite. Das therapeutische Drug Monitoring (TDM) kann zu einer erhöhten Arzneimitteltherapiesicherheit beitragen. Allerdings gelten die therapeutischen Bereiche nur für die Indikation »Epilepsie« (21).

Eine Genotypisierung auf HLA-A- und HLA-B-Polymorphismen ist bei Patienten asiatischer Abstammung ratsam, die eine Behandlung mit Carbamazepin, Oxcarbazepin, Phenytoin oder Lamotrigin beginnen. Liegen solche Polymorphismen vor, besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Überempfindlichkeitsreaktionen wie Steven-Johnson Syndrom und toxische epidermale Nekrolyse. Zusätzlich sollte die Aktivität von CYP2C9 bei Phenytoin bestimmt werden (24). Kinder unter zwei Jahren sollten zudem vor dem Einsatz von Valproat auf Mutationen der mitochondrialen DNA-Polymerase gamma (POLG) getestet werden; dies wird bereits von der amerikanischen FDA und der kanadischen HCSC empfohlen (22).

Antikonvulsiva haben ein breites Interaktionsspektrum sowie ein breites Nebenwirkungsprofil (Tabelle 5). In der Medikationsanalyse ist daher besonders auf Verschreibungskaskaden und Interaktionen zu achten. »Red flag«-Arzneimittel aufgrund starker pharmakokinetischer Interaktionen sind insbesondere Phenytoin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Valproat, Cannabidiol, Primidon und Topiramat.

Wirkstoff Sehr häufige Nebenwirkungen Besondere Nebenwirkungen Anticholinerger Score* Monitoring erforderlich von
Valproinsäure Hyperammonämie, Übelkeit, Tremor Enzephalopathie, Leukopenie, Thrombozytopenie, Hyponatriämie, Haarausfall, TEN, SJS, Gewichtzunahme 1 Ammoniak, Leberenzyme, Blutbild, Blutzucker, Amylase, PPT, INR, Bilirubin, Valproat-Spiegel
Carbamazepin Somnolenz, Sedierung, Schwindel, Schläfrigkeit, Ataxie, Verwirrtheit, Übelkeit, Erbrechen, allergische Hautreaktionen, Leukopenie, Anstieg der Gamma-GT Hyponatriämie, SJS, TEN, Gewichtszunahme 2 Natrium, Leberenzyme, Blutbild, Lipide, Harnstoff, TSH, Eisen, Carbamazepin-Spiegel
Oxcarbamazepin Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Schwindelgefühl, Müdigkeit, Erbrechen, Übelkeit Hyponatriämie, SJS, TEN 2 Natrium, Leberenzyme, Blutbild
Lamotrigin Kopfschmerzen, Hautausschlag, Diplopie, Verschwommensehen SJS O Leberenzyme, Blutbild, Hautausschlag
Cave: Dosis darf nur sehr langsam gesteigert werden!
Topiramat Nasopharyngitis, Somnolenz, Schwindel, Parästhesie, Depression, Nausea, Diarrhö, Fatigue, Gewichtsabnahme Nierensteine, SJS, TEN O Nierenfunktion, Blutbild, Elektrolyte, Serumkreatinin, Bicarbonat, Ammoniak, Gewicht
Gabapentin Virusinfektionen, Somnolenz, Schwindel, Ataxie SJS, Ödeme O Nierenfunktion, Leberenzyme
Pregabalin Benommenheit, Schläfrigkeit, Kopfschmerzen SJS, TEN, Ödeme O Nierenfunktion, Blutbild
Levetiracetam Somnolenz, Kopfschmerzen, Nasopharyngitis Persönlichkeits-veränderung, Feindseligkeit, Depression, Psychose, Reizbarkeit, SJS, TEN O Blutbild, Nierenfunktion, Leberenzyme
Primidon Somnolenz, Sedierung, Schwindel, Ataxie, Verwirrtheit, Akkomodationsstörungen, Übelkeit, Erbrechen Abhängigkeit, SJS 1 Leberenzyme, alkalische Phosphatase, Vitamin D, Blutbild, Primidon- und Phenobarbital-Spiegel
Benzodiazepine häufig: Somnolenz, Sedierung, Schwindel Ataxie, Gedächtnisstörungen, anterograde Amnesie, Abhängigkeit 1
Leberenzyme
Phenytoin Somnolenz, Sedierung, Schwindel, Ataxie, Verwirrtheit, Diplopie, Kopfschmerzen, Tremor, Nystagmus, Dyskinesien, Merkfähigkeitsstörungen Hirsutismus, Gingivahyperplasie, aplastische Anämie, SJS, Enzephalopathie O Leberenzyme, Blutbild, Phenytoin-Spiegel
Cannabidiol verminderter Appetit, Gewichtsabnahme, Diarrhö, Erbrechen, Fieber, Müdigkeit, Somnolenz Suizidgedanken, Leberschädigungen O Leberenzyme, Bilirubin
Tabelle 5: Häufige Nebenwirkungen einiger Antikonvulsiva und erforderliche Untersuchungen zum Monitoring

Bei Älteren ist ein Antikonvulsivum mit niedriger anticholinerger Wirkung zu bevorzugen, um anticholinerge Nebenwirkungen wie Obstipation, Tachykardie, Miktionsstörungen oder Delir zu vermeiden.

Barbiturate und Benzodiazepine stehen auf der Priscus-Liste und sollten bei Älteren nicht eingesetzt werden (25).

Fazit

Gerade die älteren Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin und Topiramat sind bei vielen Indikationen einsetzbar und eignen sich somit bei einigen Komorbiditäten, zum Beispiel psychischen Erkrankungen und Schmerzsyndromen. Allerdings sind die therapeutischen Bereiche teilweise deutlich enger und es können allergische Reaktionen, Hepatotoxizität und Hämatotoxizität auftreten.

Die neueren Antikonvulsiva, insbesondere Levetiracetam, Perampanel, Lacosamid, Cannabinoide und Brivaracetam, können psychische Nebenwirkungen hervorrufen, zum Beispiel Depressionen, Suizidgedanken, Psychose und Persönlichkeitsveränderungen. Sie eignen sich daher eher nicht bei Patienten mit psychiatrischen Komorbiditäten.

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