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Diskussion um Booster-Impfung

Varianten-Impfstoffe vermutlich effektiver

Auffrischimpfungen mit SARS-CoV-2-Impfstoffen führen zu einem starken Anstieg von neutralisierenden Antikörpertitern. Dabei induzieren an besorgniserregende Virusvarianten angepasste Vakzinen leicht bessere Titer als die Originalvakzinen, zeigen erste Daten von Moderna.
Theo Dingermann
17.09.2021  11:30 Uhr

Noch bieten die verfügbaren Impfstoffe einen ausreichenden Schutz auch gegen die bekannten besorgniserregenden SARS-CoV-2-Varianten (VOC). Das betonte erst vor Kurzem ein Expertengremium und rief zur Zurückhaltung bei dem Einsatz von Boostern auf.  Andererseits ist aber auch klar, dass die gegen das Wuhan-Hu-1-Isolat (Wildtyp-Virus) entwickelten Impfstoffe in unterschiedlichem Ausmaß einen Teil ihres Schutzpotenzials gegen VOC verlieren.

Da stellt sich die Frage, ob anstehende Booster-Impfungen nicht besser mit Impfstoffen durchgeführt werden sollten, die an die wichtigsten VOC angepasst sind. Dieser Herausforderung stellen sich auch die großen Hersteller der derzeit zugelassenen Impfstoffe und testen variantenspezifische Impfstoffe.

Wissenschaftler um Angela Choi des US-amerikanischen Unternehmens Moderna publizierten jetzt im Fachjournal »Nature« Daten einer Zwischenauswertung einer klinischen Studie, in der die Sicherheit und Immunogenität eins Varianten-Impfstoffs zur Booster-Impfung getestet werden.

Der Impfstoff mRNA-1273.351 enthält eine mRNA, die sich von S-Protein der Beta-Virusvariante B.1.351 ableitet. Das Antigen wurde so konzipiert, dass die Bildung von Antikörpern gegen mutierte Epitope induziert wird, die zu einer Neutralisierung der Virus-Infektiösität beitragen.

Zusätzlich zu dem monovalenten Varianten-Impfstoff testeten die Wissenschaftler auch einen multivalenten Impfstoff (mRNA-1273.211). Dabei handelt es sich um eine 1:1-Mischung aus der im zugelassenen Impfstoff  Spikevax® enthaltenen mRNA-1273 und mRNA-1273.351. Der monovalente Varianten-Impfstoff mRNA-1273.351 wurden in Konzentrationen von 20 und 50 µg getestet. Der polyvalente Impfstoff enthielt jeweils 25 µg der Einzelantigene.

Studiendesign

Von 186 Teilnehmern, die in der Phase-II-Studie P201 zwei Primärdosen mRNA-1273 ( 100 µg) und anschließend in der mRNA-1273-Booster-Phase eine Booster-Dosis (50 µg) erhalten hatten, wurden 20 Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip für diese Zwischenanalyse ausgewählt. Die Daten dieser Gruppe dienten als Kontrolle.

Von den 14.711 Teilnehmern, die in der COVE-Studie zwei Primärdosen mRNA-1273 (100 µg) erhalten hatten, wurden 60 Teilnehmer für die Varianten-Booster-Phase ausgewählt. 20  Probanden erhielten jeweils eine einzelne Booster-Dosis von mRNA-1273.351 (50 μg), von mRNA-1273.351 (20 μg) oder von mRNA-1273.211 (50 μg). Da ein Teilnehmer aus der 20-μg-mRNA-1273.351-Gruppe an Tag 29 nicht mehr zur Nachbeobachtung zur Verfügung stand und daher ausgeschlossen wurde, betrug die Stichprobengröße für diese Kohorte 19.

Verträglichkeit

Der prozentuale Anteil der Teilnehmer mit lokalen und systemischen unerwünschten Wirkungen (UAW) war in allen Booster-Gruppen sehr ähnlich. Die meisten lokalen und systemischen UAW waren leicht (Grad 1) oder moderat (Grad 2). Schmerzen an der Injektionsstelle war die häufigste lokale UAW. Häufige systemische UAW nach den Auffrischungsdosen waren Müdigkeit, Kopfschmerzen, Arthralgie und Myalgie. Fieber wurde von drei Teilnehmern nur nach der Booster-Dosis mit Spikevax (mRNA-1273) gemeldet. Schwerwiegende UAW traten nicht auf.

Immunogenität

Das Neutralisationspotenzial der Impfstoffe gegen den Wildtyp und gegen die Beta-Variante wurde in Proben bestimmt, die unmittelbar vor der Booster-Dosis (Tag 1) und nach der Booster-Dosis (Tag 29) bei Empfängern der Kontrollgruppe und an den Tagen 15 und 29 bei Empfängern der mRNA-1273.351- und mRNA-1273.211-Booster-Dosis genommen wurden. Die Seren der Teilnehmer aus der Kontrollgruppe wurden im B.1.351-Varianten-Assay nicht untersucht.

Das Wildtyp-Virus wurde von den meisten Proben, die vor der Booster-Dosis entnommen wurden, in allen untersuchten Gruppen neutralisiert, während die Neutralisationstiter für B.1.351 vor der Booster-Dosis in allen untersuchten Gruppen niedrig oder nicht nachweisbar waren.

Die Titer der neutralisierenden Antikörper gegen die Wildtyp-Viren stiegen nach jeder Booster-Dosis im Vergleich zu den Titern, die am Tag 1 bestimmt wurden, hoch signifikant an. Am Tag 29 ließ sich bei den Probanden, die mit Spikevax (50 µg), mit dem Impfstoff mRNA-1273.351 (50 µg beziehungsweise 20 µg) oder mit dem Impfstoff mRNA-1273.211 (50 µg) geboostert wurden, ein mittlerer Anstieg der Titer  um jeweils den Faktor 16,7, 11,3, 9,2  beziehungsweise 46,4 ermitteln.

Ganz ähnliche Effekte beobachteten die Wissenschaftler, wenn gegen die Beta-Variante getestet wurde. Am Tag 29 hatten sich für den Impfstoff mRNA-1273.351 (50 µg beziehungsweise 20 µg) oder für den Impfstoff mRNA-1273.211 (50 µg) Titer eingestellt, die im Mittel jeweils um den Faktor 34,9, 33,7 beziehungsweise 61,6 höher lagen als am Tag 1. Das galt auch für Probanden, bei denen vor der Booster-Impfung keine messbaren neutralisierenden Antikörper gegen das Wildtyp-Virus oder gegen die Beta-Variante nachweisbar gewesen waren.

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Booster-Impfungen sowohl mit Spikevax als auch mit dem für die Beta-Variante optimierten Impfstoff oder mit dem Kombinationsimpfstoff sicher und effektiv sind.

In allen Fällen konnten die Auffrischimpfungen den zum Teil starken Abfall der neutralisierenden Antikörper nach der Primärimpfung hoch effektiv kompensieren. Diese gebildeten Antikörper neutralisierten neben der Wildtyp-, der Beta- und der Gamma-Variante auch deutlich die Delta-Variante. Daraus schließen die Wissenschaftler, dass eine weitere Reifung der Antikörper nach einer Primärserie durch eine Booster-Impfung prinzipiell möglich ist, unabhängig von der Zusammensetzung der Booster-Impfstoffe. Allerdings deuten die Daten an, dass der Effekt mit angepassten Impfstoffen deutlich größer ist.

Gute Daten auch bei Booster-Impfung mit Comirnaty

In einer im »New England Journal of Medicine« publizierten Studie, beschreibt ein Wissenschaftler-Konsortium verschiedener Forschungseinrichtungen in Israel das Schutzpotenzial, das durch eine Booster-Impfung mit dem BNT162b2-Impfstoff (Comirnaty®) der Firmen Biontech und Pfizer erzielt wird. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Moderna-Studie wurden als Outcome nicht In-vitro-Parameter, sondern das Auftreten von Infektionen beziehungsweise schwerer Krankheitsverläufe gemessen.

Basis dieser Analyse waren Daten von etwa 1,14 Millionen Personen, die 60 Jahre oder älter und mindestens fünf Monate vor einer Booster-Impfung vollständig geimpft worden waren. In der primären Analyse verglichen die Wissenschaftler die Rate der bestätigten Covid-19-Erkrankungen und die Rate der schweren Erkrankungen von Personen, die mindestens zwölf Tage zuvor eine Auffrischungsimpfung erhalten hatten (Booster-Gruppe), und von Personen, die keine Auffrischungsimpfung erhalten hatten (Nicht-Booster-Gruppe). Die Dauer von zwölf Tagen wurde gewählt, da sieben Tage für eine Antikörperantwort benötigt werden und fünf Tage Inkubationszeit im Fall einer Infektion zu erwarten sind.

In einer sekundären Analyse wurde die Infektionsrate vier bis sechs Tage nach der Auffrischungsimpfung mit der Rate mindestens zwölf Tage nach der Auffrischungsimpfung verglichen.

Guter Schutz vor Infektion und schweren Covid-19 Verläufen durch Booster-Impfung

Die Rate der bestätigten Infektionen war mindestens zwölf Tage nach der Auffrischimpfung in der Booster-Gruppe um den Faktor 11,3 niedriger als in der Gruppe ohne Booster. Der absolute Unterschied zwischen den Gruppen bei der Rate der bestätigten Infektionen betrug 86,6 Infektionen pro 100.000 Personentage. Die Rate schwerer Erkrankungen war in der Booster-Gruppe um den Faktor 19,5 niedriger als in der Nicht-Booster-Gruppe. Der absolute Unterschied zwischen den Gruppen bei der Rate schwerer Erkrankungen betrug 7,5 Fälle pro 100.000 Personentage.

In der sekundären Analyse war die Rate der bestätigten Infektionen mindestens zwölf Tage nach der Impfung deutlich niedriger als die Rate vier bis sechs Tage nach der Impfung.

Schlussfolgerung

Die Autoren resümieren, dass eine Auffrischungsdosis des BNT162b2-Impfstoffs sowohl die Raten der bestätigten Infektion als auch der schweren Covid-19-Erkrankungen zu reduzieren vermag.

Sie rechnen vor, dass wenn Studien zufolge die Anfälligkeit für eine SARS-CoV-2-Infektion bei voll geimpften Personen nach sechs Monaten auf 50 Prozent absinkt, eine Auffrischungsdosis das Infektionsrisiko auf 5 Prozent drückt. Die Wirksamkeit des Impfstoffs bei den Empfängern der Auffrischungsdosis steigt somit auf etwa 95 Prozent. Dieser Wert entspricht der ursprünglichen Wirksamkeit des Impfstoffs gegen die Alpha-Variante.

Uneinigkeit unter Experten

Während die wissenschaftlichen Daten ein erfreuliches Bild zu den Booster-Impfungen zeichnen, verstricken sich Wissenschaftler und Gesundheitsexperten in einer Diskussion über die Notwendigkeit von Booster-Impfungen zum aktuellen Zeitpunkt.

Gerade die israelische Studie schürt den Konflikt. Denn die Aussagekraft dieser Studie ist deutlich limitiert, was auch die Autoren einräumen. Bisher belegen die erhobenen Daten nur, dass durch eine dritte Impfung Erwachsene über 60 Jahren für mindestens zwölf Tage vor Infektionen und schwerer Erkrankung geschützt sind.

Mehrere unabhängige Wissenschaftler argumentieren, dass die bisher vorliegenden Daten nur andeuten, dass ältere Erwachsene Auffrischungsimpfungen benötigen könnten – und vielleicht nicht einmal diese. Die überwiegende Mehrheit der Menschen scheint nach wie vor durch eine Grundimmunisierung vor schweren Erkrankungen und Krankenhausaufenthalten ausreichend geschützt zu sein. Dies belegen alle bisher publizierten Studien, darunter auch drei Studien, die erst vergangene Woche von der US-Gesundheitsbehörde CDC veröffentlicht wurden. Danach, so wird in einem Beitrag der »New York Times« gefolgert, scheint ausschließlich bei Erwachsenen über 75 Jahren der Schutz durch die Grundimmunisierung verloren zu gehen.

Ein Problem bildet allerdings der Schutz vor Infektionen, vor allem hinsichtlich der hoch ansteckenden Delta-Variante.

Der Konflikt ist auch bei der FDA angekommen

Man rechnet damit, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA – auch auf politischem Druck hin – zeitnah eine Auffrischimpfung empfehlen wird. Allerdings zeichnet sich ab, dass diese Entscheidung nicht einstimmig getroffen wird.

Zwei Wissenschaftler, die die Impfstoffabteilung der FDA leiten, erklärten, dass sie die Behörde im Herbst verlassen werden, unter anderem, weil sie die politische Einflussnahme missbilligen. Ihren Unmut über die Vorstöße von außen, auf eine Empfehlung zu einer Auffrischungsimpfungen zu drängen, bekundet eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, zu der auch die scheidenden FDA-Beamten gehören, in einem Bericht, der in der Zeitschrift »The Lancet« veröffentlicht wurde. Ihre Studienanalyse kam zu dem Schluss, dass der Welt besser gedient wäre, wenn die Milliarden von Menschen auf der Welt, die noch nicht geimpft sind, durch Impfdosen geschützt würden.

»Unser vorrangiges Ziel bei dieser Pandemie war es, alle vermeidbaren Todesfälle zu verhindern«, sagt Dr. Soumya Swaminathan, leitende Wissenschaftlerin der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Mitverfasserin der Studie. »Und da wir über die entsprechenden Mittel verfügen, sollten wir sie auch nutzen, um Todesfälle auf der ganzen Welt zu verhindern.«

Bekanntlich hat auch die WHO die Staats- und Regierungschefs der Welt aufgefordert, bis mindestens Ende des Jahres keine Auffrischungsimpfungen vorzunehmen, um 40 Prozent der Weltbevölkerung zu impfen. Statt diesem Aufruf zu folgen, haben bereits einige Länder, darunter auch Deutschland, damit begonnen, Angehörigen bestimmter Alters- und Risikogruppen Auffrischimpfungen zu empfehlen. Israel hat Auffrischungsimpfungen für alle über zwölf Jahre zugelassen und erwägt bereits eine vierte Dosis für seine Bevölkerung.

Ältere Menschen sind besonders schutzbedürftig

Bei älteren Menschen ist ein nachlassender Infektionsschutz allerdings ein zwingendes Argument für Auffrischungsimpfungen, betonen einige Wissenschaftler gegenüber der »New York Times«. Bei dieser Gruppe solle man immer proaktiv und nicht reaktiv vorgehen.

So hebt Professor Dr. Michel Nussenzweig, Immunologe an der Rockefeller University, hervor, dass eine Auffrischimpfung in der Allgemeinbevölkerung auch Übertragungsketten unterbreche. »Das wird letztlich verhindern, dass andere ins Krankenhaus gehen.«

Andere Experten stellten diese Prämisse infrage und erklären, es gebe keine Daten, die darauf hindeuten, dass der Rückgang der Übertragung signifikant genug wäre, um Auffrischungsimpfungen zu rechtfertigen. Zudem muss gerade auch für jüngere Menschen die Abwägung zwischen dem begrenzten Nutzen einer dritten Dosis und den generellen Risiken einer Impfung, darunter die Bildung gefährlicher Thrombosen oder Herzproblemen, deutlich positiv ausfallen, so die Forscher.

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