Ungewöhnliche Covid-19-Symptome bei Älteren |
Christina Hohmann-Jeddi |
20.09.2021 18:00 Uhr |
Senioren zeigen bei einer SARS-CoV-2-Infektion seltener Symtome, die bei jüngeren Menschen typisch sind, etwa Husten oder Verlust des Geruchssinns. Stattdessen sollte Verwirrtheit ein Warnzeichen sein. / Foto: Adobe Stock/Mikel Allica
»Schon früh in der Pandemie wurde klar, dass Covid-19 eine stark alterszentrierte Erkrankung ist«, sagte Professor Dr. Jürgen Bauer von der Universität Heidelberg Anfang September auf dem Online-Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG). Altersbedingte Veränderungen der Gefäße, aber auch die Immunseneszenz spielten hier eine Rolle. So steigt mit dem Alter die Morbidität und die Sterblichkeit. Patienten über 80 Jahre, die aufgrund von Covid-19 hospitalisiert werden mussten, hatten deutschen Daten zufolge eine Mortalität von 50 Prozent, berichtete der Geriater. Dabei hänge das Überleben stark von der Fitness der Patienten ab: Laut einer Metaanalyse steigt die Mortalität der Infizierten mit zunehmender Gebrechlichkeit (Frailty).
Nicht nur die Mortalität nehme mit dem Alter zu, auch die Symptomatik verändere sich, berichtete Professor Dr. Rainer Wirth von der Ruhr-Universität Bochum. Eine spanische Studie mit 1400 Patienten einer Notaufnahme habe systematisch die Symptome von Covid-19-Patienten nach Altersgruppen ausgewertet. Die Ergebnisse veröffentlichte ein Team um Javier Martin-Sanchez aus Madrid 2020 im Fachjournal »European Geriatric Medicine«.
Die Studie zeige sehr schön, dass die klassischen Symptome wie Husten, Fieber, Luftnot, Diarrhö, Geruchsverlust und Kopfschmerzen im Alter weniger werden, sagte der Geriater. »Mit einer einzigen Ausnahme: der Verwirrtheit.« Paradoxerweise haben ältere Patienten eine deutlich schwerere Krankheitslast mit höherer Hospitalisierungsrate als Jüngere, obwohl die Symptome weniger werden.
Wie häufig Covid-19-untypische Symptome bei älteren Patienten vorkommen, zeigt eine retrospektive Datenanalyse von etwa 5000 Patienten in New Yorker Krankenhäusern in der ersten Pandemiewelle, die im Durchschnitt etwa 77 Jahre alt waren. Typische Symptome wie Luftnot, Fieber und Husten wiesen insgesamt 57 Prozent der Patienten auf, atypische wie funktionelle und kognitive Verschlechterungen kamen bei 33 Prozent vor (»Journals of Gerontology: Medical Science«).
Von den Patienten mit atypischen Symptomen habe etwa die Hälfte ausschließlich atypische Symptome gehabt, berichtete Wirth. Mit zunehmendem Alter, bei weiblichem Geschlecht, bei höherer Komorbidität und dem Vorliegen von Diabetes oder Demenz stieg die Wahrscheinlichkeit für eine atypische Symptomatik. Patienten mit diesen Symptomen mussten seltener intensivmedizinisch behandelt werden, ihre Mortalität unterschied sich aber nicht von der von Patienten mit typischer Symptomatik.
Auf ein bei älteren Patienten häufiges Symptom ging Professor Dr. Christine von Arnim von der Universitätsmedizin Göttingen auf dem Kongress genauer ein: das Delir. Darunter wird eine Störung der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins verstanden, wobei weitere kognitive Domänen wie Gedächtnis, Orientierung oder Sprache zusätzlich betroffen sein können. Der Zustand beginne spontan und könne im Tagesverlauf variieren, berichtete die Ärztin. »Es ist immer die Konsequenz einer anderen Erkrankung.«
Einer Metaanalyse über 48 Studien zufolge liegt die Prävalenz des Delirs bei Covid-19-Patienten insgesamt bei 24 Prozent, bei den über 65-Jährigen bei 28 Prozent. Diese Ergebnisse stellte ein taiwanisches Forscherteam im Mai im Journal »Age and Ageing« vor. Von den Patienten mit bekannter Demenz wiesen sogar 45 Prozent ein Delir auf. Die Analyse zeigte auch, dass Patienten mit dieser Verwirrtheit ein dreifach erhöhtes Mortalitätsrisiko hatten.
Bei der Krankenhausaufnahme von Covid-19-Patienten ist Delir einer weiteren Studie zufolge das fünfthäufigste Symptom nach Fieber, Husten, Atemnot und Fatigue, berichtete die Ärztin. »Es ist außerdem das einzige, das mit zunehmendem Alter immer häufiger wird.« Eine Studie untersuchte, welche Symptome bei der Klinikeinweisung von Covid-19-Patienten Erst- und Hauptsymptom sind; darin war bei 16 Prozent der Patienten Delir das bestimmende Symptom (»JAMA Network Open«). 37 Prozent der Patienten mit diesem Verwirrtheitszustand hätten keine Covid-19-typischen Krankheitszeichen wie Fieber oder Atemnot gezeigt, berichtete von Arnim.
Wie präsentiert sich das Delir bei diesen Patienten? Der Untersuchung zufolge wiesen 54 Prozent der Betroffenen Wahrnehmungsstörungen auf, 43 Prozent waren desorientiert, 20 Prozent zeigten eine hypoaktive Form mit Schläfrigkeit und Apathie und 16 Prozent waren hyperaktiv mit Agitiertheit und motorischer Unruhe. Die Verwirrtheit dauere in etwa vier Tage an, so von Arnim. Je länger das Delir anhalte, desto höher falle die Mortalität aus.
Masken, die Pfleger und Patienten in der Pandemie tragen mussten, haben die Kommunikation erschwert. / Foto: Adobe Stock/pikselstock
Einer britischen Untersuchung zufolge tritt das Delir häufig vor respiratorischen Symptomen auf und kann auch mit zerebrovaskulären Komplikationen einhergehen, etwa mit territorialen Infarkten, Vaskulitis oder Enzephalomyelitis. Es sei durchaus sinnvoll, bei Patienten mit Delir eine MRT-Aufnahme des ZNS anzufertigen, erklärte die Ärztin. Häufig sei die kognitive Beeinträchtigung das klinische Erscheinungsbild einer Enzephalopathie, wobei die direkte Infektion des Gehirns eine Rarität sei. Meist handele es sich um eine Reaktion auf eine systemische Entzündung. Neben den physiologischen Ursachen trügen auch Umweltfaktoren zum Entstehen des Delirs bei Covid-19 bei, sagte von Arnim.
In der Pandemie seien Senioren gerade in Pflegeheimen sozial isoliert gewesen, was ein Delir begünstigen kann. Im Fall einer Coronainfektion habe sich die Situation noch verschärft: Die Patienten seien isoliert und von Angehörigen getrennt worden, Pflegende seien gestresst und mit Masken und Schutzausrüstung vermummt gewesen, was die Kommunikation mit ohnehin schlecht hörenden Menschen noch erschwert. Das sei zusammengenommen »das Gegenteil von dem, was wir als Delir-Management-Strategien kennen«. Aufgrund der Relevanz des Problems forderte von Arnim, dass das Delir bei allen Covid-19-Patienten systematisch erfasst, überwacht, behandelt und nachuntersucht werden sollte.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.