Theorien zur Entstehung der Omikron-Variante |
Theo Dingermann |
01.12.2021 12:30 Uhr |
Ist ein Patient sehr stark immunsupprimiert, können Viren rascher als normalerweise mutieren. / Foto: Getty Images/DrPixel
Der Bedeutung des pandemischen Coronavirus SARS-CoV-2 entsprechend laufen die ermittelten Daten aus Strukturanalysen in mittlerweile riesige, eigentlich nur noch von Spezialisten zu durchschauende Stammbäume ein. Das gilt auch für die inzwischen als Omikron bezeichnete Variante B.1.1.529. Hier erkennt man, wie sich Varianten schrittweise aus Vorläufervarianten entwickeln, aus denen sich dann vielfach auch Funktionsdaten ableiten lassen.
Bei dieser Routine fiel die neue Variante in einer Form auf, wie man das bisher nicht gesehen hatte. Offensichtlich hatte das Virus mehrere Entwicklungsschritte übersprungen, was daran abzulesen ist, dass allein im Spike-Protein 21 Mutationen detektiert wurden, die man noch in keiner anderen besorgniserregenden Variante (Variant of Concern, VOC) gefunden hatte. Bis dato dominierten im südlichen Afrika, wo Omikron erstmals nachgewiesen wurde, die Varianten Beta und Delta. Mit ihnen ist die neue Variante nicht verwandt. Heute wird Omikron der Clade 21K zugeordnet, die sich nach momentaner Erkenntnis Mitte 2020 aus der Clade 20B abzweigte.
Das ist wirklich ungewöhnlich und momentan sucht man intensiv nach Erklärungen. Zwei Thesen kursieren derzeit: Die erste besagt, dass das Virus schon länger in Regionen zirkuliert, in denen Coronafälle nur unzureichend detailliert charakterisiert werden. Sollte diese Hypothese stimmen, könnte man beispielsweise Südafrika als Entstehungsregion für Omikron ausschließen. Denn in Südafrika funktioniert das Surveillance-System hervorragend – ganz anders als in vielen anderen Regionen dieser Erde, wo Virusvarianten erstmals nachgewiesen wurden.
Nach der zweiten Hypothese könnte sich Omikron im Körper eines Patienten mit einem stark eingeschränkten Immunsystem entwickelt haben. Das hält auch der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI), Professor Dr. Carsten Watzl, für denkbar. Ähnliche Befunde seien in anderen Fällen bereits publiziert worden, sagte Watzl der Nachrichtenagentur dpa. Auch der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte am Freitag getwitterte: »Die vielen Mutationen sprechen für Entstehung in HIV-Patienten«.
Tatsächlich ist die Erklärung durchaus plausibel. Denn ist das Immunsystem etwa durch eine HIV-Infektion geschwächt, wird das Virus zwar von der Restimmunaktivität attackiert, kann jedoch nicht komplett eliminiert werden. Dass sich unter diesen Bedingungen Virusvarianten bilden, ist zu erwarten.
Gleichzeitig verspürt das Virus aber auch einen gewissen Druck durch die Restimmunität des Patienten. Dies schafft ein Selektionsmilieu. So kann das Virus in einem immungeschwächten Patienten eine Evolution durchlaufen, die es sonst nur im Rahmen einer Infektionskette in der Bevölkerung durchläuft.
Diese Theorie unterstreicht die Notwendigkeit, HIV-Patienten bestmöglich mit Therapeutika zu versorgen. Dies ist bekanntlich bei Weitem nicht der Fall, ebenso wenig wie die Region im südlichen Afrika ausreichend mit Covid-19-Impfstoff versorgt ist.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.