Pharmazeutische Zeitung online
Nierenfunktion

Schätzfehler können sehr groß sein

Die Nierenfunktion eines Patienten ist eine wichtige Größe im klinischen Alltag. Weil deren Messung sehr aufwendig ist, wird sie normalerweise geschätzt. Obwohl entsprechende Formeln diverse Korrekturfaktoren beinhalten, weichen die Schätzwerte teilweise erheblich vom Istwert ab.
Annette Rößler
14.07.2022  13:00 Uhr

Viele Arzneistoffe werden über die Nieren aus dem Körper ausgeschieden. Lässt die Nierenfunktion nach, muss unter Umständen die Dosis reduziert werden. Daher ist die Kenntnis der Nierenfunktion oder auch glomerulären Filtrationsrate (GFR) für Ärzte und (Krankenhaus)-Apotheker essenziell.

Die GFR wird aber in der Regel nicht direkt bestimmt, weil dies die Injektion eines radioaktiven Markers und anschließend mehrfache Blutentnahmen und Urinproben erfordert. Um diesen Aufwand zu umgehen, wird statt der gemessenen GFR (mGFR) anhand von Markern wie dem Serumkreatinin oder Cystatin C eine geschätzte GFR (eGFR) berechnet. Formeln zur Berechnung der eGFR enthalten verschiedene Faktoren, die Kenngrößen wie Alter, Geschlecht oder Kreatininbereiche berücksichtigen. Bezogen auf den Durchschnitt der Bevölkerung lasse sich damit eine eGFR ermitteln, die sehr nah an der tatsächlichen mGFR ist, heißt es jetzt in einer Publikation im Fachjournal »Annals of Internal Medicine«. Auf individueller Ebene könnten die Abweichungen aber erheblich sein.

Professor Dr. Tariq Shafi von der University of Mississippi und Kollegen vergleichen in der Arbeit die mGFR mit der mittels CKD-EPI-Formel berechneten eGFR von 3223 Personen zwischen 19 und 86 Jahren. Das Durchschnittsalter der Probanden betrug 59 Jahre, 32 Prozent waren dunkelhäutig und 55 Prozent waren Frauen.

Trotz einer nur marginalen medianen Abweichung zwischen mGFR und eGFR von 0,6 ml/min/1,73 m2 stellten die Forscher patientenindividuell eine unerwartet große Schwankungsbreite fest. So lagen die tatsächlich gemessenen Werte bei einer eGFR von 60 ml/min/1,73 m2 nur bei der Hälfte der Patienten zwischen 52 und 67 ml/min/1,73 m2; 80 Prozent der Patienten mit dieser eGFR hatten eine mGFR zwischen 45 und 76 ml/min/1,73 m2 und 95 Prozent zwischen 36 und 87 ml/min/1,73 m2. Bei schlechterer Nierenfunktion (eGFR 30 ml/min/1,73 m2) waren die Abweichungen ähnlich groß. Die Einbeziehung von Cystatin C in die Berechnung änderte daran nichts.

Aufgrund der Diskrepanz zwischen gemessener und berechneter GFR sei lediglich bei der Hälfte der Patienten anhand der eGFR das Stadium einer chronischen Nierenerkrankung (CKD) korrekt zu ermitteln gewesen, schreiben Shafi und Kollegen. Sie warnen daher davor, die eGFR für bare Münze zu nehmen, wie es im klinischen Alltag zu oft geschehe. Stattdessen müsse man sich stets darüber im Klaren sein, dass es sich um einen berechneten Wert handele, der vom tatsächlichen erheblich abweichen könne.

Um das zu verdeutlichen, schlagen sie vor, die eGFR in paGFR umzubenennen, was für »Population Average GFR«, also Bevölkerungsdurchschnitts-GFR, stehen solle. Zudem müsse die GFR noch häufiger direkt gemessen werden, was mit neueren Messmethoden, die ohne radioaktive Marker auskämen, deutlich weniger aufwendig sei als bisher.

Mehr von Avoxa