Rückfälle nach Absetzen häufiger |
Annette Rößler |
08.10.2021 10:00 Uhr |
Insbesondere wenn sie ein Antidepressivum schon längere Zeit einnehmen, fragen sich viele Patienten, ob sie es nicht auch weglassen könnten, ohne erneut zu erkranken. / Foto: Getty Images/Black Lollipop
Profitiert ein Patient mit einer akuten Depression von der Einnahme eines Antidepressivums, wird die Behandlung nach der Akutphase der depressiven Episode üblicherweise sechs bis neun Monate als Erhaltungstherapie fortgeführt. Wie es danach weitergeht, ob das Medikament abgesetzt oder noch weiter eingenommen werden sollte, hängt unter anderem vom Zustand des Patienten und möglichen Nebenwirkungen ab.
Dass Antidepressiva vorsichtshalber immer länger gegeben würden, sei der Hauptgrund für die dramatische Zunahme der Verschreibungshäufigkeit in den letzten Jahren, sagt Dr. Gemma Lewis vom University College London. »Bisher wussten wir aber gar nicht, ob eine antidepressive Therapie nach mehreren Jahren überhaupt noch wirksam ist.« Diese Frage wollen Lewis und Kollegen im Rahmen der ANTLER-Studie klären. Ein erstes Ergebnis präsentieren sie jetzt im »New England Journal of Medicine«.
Bei der untersuchten Population handelt es sich um ambulant von einem Hausarzt in Großbritannien betreute Patienten mit mindestens zwei depressiven Episoden in der Krankengeschichte. Die 478 Teilnehmer wurden seit mindestens zwei Jahren mit einem der Antidepressiva Citalopram, Fluoxetin, Sertralin oder Mirtazapin behandelt und fühlten sich zum Zeitpunkt des Studienstarts bereit dazu, es wegzulassen. Randomisiert und doppelblind wurde die antidepressive Medikation daraufhin jeweils bei der Hälfte der Probanden fortgeführt beziehungsweise beendet. Um Absetzphänomene zu vermeiden, wurde die Dosis in der Absetzgruppe über zwei Monate ausgeschlichen.
Nach einem Jahr war es in dieser Gruppe bei 135 von 240 Teilnehmern (56 Prozent) zu einem Rückfall in die Depression gekommen, in der Gruppe mit fortgesetzter Antidepressiva-Einnahme hingegen nur bei 92 von 238 Teilnehmern (39 Prozent). Dafür, dass offenbar viele Patienten ohne das Antidepressivum doch nicht klar kamen, sprach auch die mit 48 versus 30 Prozent deutlich höhere Studienabbrecherquote bei den Absetzern gegenüber den Beibehaltern. 39 beziehungsweise 20 Prozent dieser Patienten ließen sich nach Studienabbruch wieder ein Antidepressivum vom Hausarzt verschreiben.
Andererseits entschied sich nur die Hälfte derjenigen, bei denen es nach dem Absetzen zu einer erneuten depressiven Episode gekommen war, dafür, wieder ein Antidepressivum einzunehmen. Einige der Rückfälle – möglicherweise waren es auch Absetzphänomene – könnten so leicht gewesen sein, dass die Patienten die Notwendigkeit einer erneuten Tabletteneinnahme nicht sahen, vermuten die Forscher als Erklärung. Unter dem Strich nahmen 59 Prozent der Teilnehmer in der Absetzgruppe nach einem Jahr kein Antidepressivum mehr ein.
Die Aussage der Studie ist somit differenziert zu betrachten; sie stellt weder ein klares »Pro« noch ein eindeutiges »Kontra« für die längerfristige antidepressive Therapie dar. »Unsere Ergebnisse vergrößern die Evidenz dafür, dass eine Langzeittherapie für viele Patienten angebracht ist«, sagt Lewis. »Wir haben allerdings auch gesehen, dass viele Patienten ihre Medikation erfolgreich beenden konnten, wenn diese über zwei Monate ausgeschlichen wurde.« Die Schwierigkeit bestehe darin, dass man momentan noch nicht sagen könne, bei wem das der Fall sei.
Ob es im Einzelfall ratsam ist, ein Antidepressivum langsam abzusetzen, wird also für Ärzte und Betroffene weiter eine Abwägungssache bleiben. Unbedingt berücksichtigt werden sollte dabei, dass Antidepressiva nicht alles sind und dass auch die Psychotherapie bei Depressionen sehr wirksam sein kann. Das betont Seniorautor Professor Dr. Glyn Lewis: »Es gibt auch andere Wege, um Rückfällen vorzubeugen. Dazu gehören die kognitive Verhaltenstherapie und achtsamkeitsbasierte Therapien.«