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Patientensicherheit

Richtig rechnen für Frühgeborene

Für mehr Arzneimitteltherapiesicherheit zu sorgen, ist immer Teamarbeit – warum auch viel rechnen dazu gehört und wo sich verlässliche Informationen zur Dosierung finden lassen, erklären Apotheker-Ärzte-Teams zum Welttag der Patientensicherheit am 17. September.
Christiane Berg
16.09.2021  16:30 Uhr

Studiengemäß sterben in Deutschland mehr Menschen an vermeidbaren Medikationsfehlern als im Straßenverkehr. Zur Gewährleistung der Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) ist gerade bei Kindern und hier insbesondere bei Frühchen Präzisionsarbeit gefragt. Denn Tabletten für Erwachsene lassen sich für diese nicht etwa einfach teilen oder vierteln. Mit Blick auf adäquate Dosierungen bedeutet das für Ärzte und Apotheker, einen nicht unwesentlichen Teil ihres Arbeitstages mit Rechnen zu verbringen.

Als Oberärztin auf der Frühgeborenen- und Kinderintensivstation des Universitätsklinikums Münster (UKM) ist Dr. Julia Sandkötter unter anderem verantwortlich für die Anordnung von Arzneimitteln. Das sei gerade bei den kleinsten, teils wenige hundert Gramm leichten Patienten häufig eine besondere Herausforderung, heißt es in einem Statement des UKM anlässlich des Welttages der Patientensicherheit, der unter dem Motto »Sicher vom ersten Atemzug an« steht und damit im diesen Jahr einen besonderen Fokus auf Kinder legt.

Bei der Verordnung muss bedacht werden: Wie schwer ist das Kind? Hat sich das Gewicht seit der letzten Arzneimittelgabe verändert? Wie sind die Leber- und Nierenwerte? Wie arbeitet der Stoffwechsel? Diese Fragen seien wichtig, um die richtige Dosierung für ein Arzneimittel zu finden. Zudem unterliege das Gewicht bei sehr kleinen Kindern anders als bei Erwachsenen großen Schwankungen.

Keine Standardlösungen für Kinder

Die meisten Arzneimittel werden per Infusion gegeben. Nicht zuletzt hier gibt es einen entscheidenden Unterschied zu erwachsenen Patienten: »Für Kinder existieren keine Standardlösungen. Wir berechnen auch hier für jedes Kind individuell die richtige Zusammensetzung der Infusion«, so Sandkötter. 

Angefertigt werden die Lösungen in der UKM-Apotheke. Für das Stellen und Vorbereiten der intravenösen Medikamente ist eine pharmazeutisch-technische Assistentin (PTA) auf der Station zuständig. Alle weiteren Arzneimittel bereitet das pflegerische Team nach ärztlicher Anordnung vor. Stets gilt das Vier-Augen-Prinzip, denn ein Fehler kann schnell passieren und im schlimmsten Fall lebensbedrohliche Auswirkungen haben.

»Arzneimitteltherapiesicherheit ist immer Teamarbeit«, unterstreicht Dr. Christoph Klaas, Leiter der UKM-Apotheke. Der klinische Pharmazeut und seine Mitarbeitenden stehen täglich im engen Austausch mit den Stationen am UKM und sensibilisieren bei jeder Gelegenheit zum Thema AMTS. »Fast jeder Patient im Krankenhaus – ob Kind oder Erwachsener – bekommt Arzneimittel, oft mehrere gleichzeitig. Durch ständig neue Wirkstoffe ist das Thema immer komplexer geworden. Mit Blick auf die große Zahl vermeidbarer Medikationsfehler haben wir uns das Ziel gesetzt, proaktiv an der Verbesserung der AMTS zu arbeiten«, so Klaas.

Eine weitere Herausforderung sei, dass nicht alle Medikamente eine offizielle Zulassung für Kinder haben. Der Nutzen von Arzneimitteln beruhe häufig lediglich auf Erfahrungswerten. Um diesen Nutzen auch wissenschaftlich zu belegen, werden in der Münsteraner Kinder- und Jugendklinik auch wissenschaftliche Studien durchgeführt. »Das ist wichtig, um langfristig für viele Patientinnen und Patienten Arzneimitteltherapiesicherheit zu schaffen«, so der Direktor der Klinik, Professor Dr. Heymut Omran.

Neue Datenbank unterstützt Ärzte und Apotheker

Nur ein kleiner Teil der Arzneimittelpräparate in Deutschland ist speziell für Kinder und Jugendliche zugelassen. Oft fehlen Angaben zur genauen Dosierung und zu kindgerechten Darreichungsformen. Dieser Umstand zwingt Ärzte regelmäßig zum sogenannten Off-Label-Use, also zur Verschreibung von Medikamenten ohne die für diesen Zweck explizite Zulassung durch die Arzneimittelbehörden. »Das ist kein Idealzustand – keine Frage. Kein Arzt und kein Apotheker macht so etwas gerne oder leichtfertig«, weiß auch Professor Dr. Antje Neubert, Apothekerin und Leiterin der Zentrale für Klinische Studien in der Pädiatrie des Universitätsklinikums Erlangen.

Um allen Verantwortlichen mehr Sicherheit zu bieten, wurde dort die evidenzbasierte Datenbank www.kinderformularium.de entwickelt, auf die seit Januar 2021 deutschlandweit Ärzte, Apotheker, Therapeuten und Pflegefachkräfte kostenlos zugreifen können. Hier können sie nachlesen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es aktuell zur Verordnung ausgewählter Medikamente bei Kindern und Jugendlichen gibt.

Mit dem entsprechenden Klick können Kollegen weiterführende Informationen zur Erarbeitung ihrer Dosierungsempfehlungen und ihrer Pädiatrie-spezifischen Arzneimittelinformationen erhalten. Das Projekt zur Wissensplattform für Kindermedikamente wird vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert und von Neubert sowie dem Pädiater Professor Dr. Wolfgang Rascher an der Kinder- und Jugendklinik geleitet.

Vorbild aus den Niederlanden

Um dieses nachhaltige Arzneimittelinformationssystem für Kinder etablieren und vorhandene Kenntnisse nutzen zu können, ist ein Lizenzvertrag mit dem niederländischen Kinderformularium (NKFK – Nederlands Kenniscentrum Farmacotherapie bij Kinderen) geschlossen worden, hatte Neubert zum Launch der deutschen Version  in einer Mitteilung der Erlanger Kinderklinik deutlich gemacht.   

Damit sei auf ein schon bestehendes, national etabliertes und evidenzbasiertes Arzneimittelinformationssystem aufgebaut worden, dessen Dosierungsempfehlungen zu einem sehr großen Teil auf systematischen Recherchen der Primärliteratur sowie entsprechender Nutzen-Risiko-Analysen basieren und als Ausgangspunkt für die Erstellung des deutschen Kinderformulariums dienten.

Die bestehenden Inhalte seien sorgfältig geprüft, durch eigene Recherchen erweitert und auf Deutschland angepasst worden. Darüber hinaus seien Informationen zum Zulassungsstatus, zu kinderspezifischen Nebenwirkungen, zu Warnhinweisen und Kontraindikationen sowie zu geeigneten Präparaten in Deutschland aufgenommen worden.

Die Datenbank sei anschließend bundesweit im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie durch den Einsatz im medizinischen und pharmazeutischen Alltag in zwölf Kliniken und über 150 Arztpraxen geprüft und kritisch unter die Lupe genommen worden. »Es ist uns gelungen, ein umfangreiches Arzneimittelinformationssystem zur evidenzbasierten Anwendung von Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen zu schaffen«, unterstreicht Neubert. »Gleichzeitig wurde ein wichtiger Schritt in Richtung eines international harmonisierten Werkes getan«, betont die Pharmazeutin.

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