Neues zur Antikoagulation |
In einigen Indikationen sind Heparine zur Antikoagulation nach wie vor unverzichtbar, beispielsweise in Schwangerschaft und Stillzeit. In vielen Indikationen werden sie jedoch von oralen Wirkstoffen verdrängt. / Foto: Adobe Stock/betaverso
Da das Risiko für thromboembolische Erkrankungen stark altersabhängig ist, nimmt die Anwendung von Antikoagulanzien seit Jahren zu. Obwohl die Zahl der Wirkstoffe vergleichsweise gering ist, betrug der Anteil der Antikoagulanzien 2020 mit 1022 Millionen DDD (daily defined doses) 2,26 Prozent aller zulasten der GKV verordneten Arzneimittel (1).
Prinzipiell ist zu unterscheiden zwischen der kurz- bis mittelfristigen Antikoagulation mit parenteralen Antikoagulanzien (fünf verschiedene niedermolekulare Heparine, NMH, plus fünf Enoxaparin-Biosimilars, unfraktioniertes Heparin, UFH, und Fondaparinux) und der langfristigen oralen Antikoagulation mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) und Vitamin-K-Antagonisten (VKA) (in Deutschland zu 98,7 Prozent Phenprocoumon). In den letzten zehn Jahren, das heißt seit Einführung des Thrombin-Inhibitors (DTI) Dabigatran und der drei Faktor-Xa-Inhibitoren (DXI) Rivaroxaban, Apixaban und Edoxaban, ist die Zahl verordneter oraler Antikoagulanzien um das 2,5-Fache gestiegen (1). Im Jahr 2020 gehörten Apixaban und Rivaroxaban zu den 30 am häufigsten verordneten Arzneimitteln und belegten Platz 1 und 3 der umsatzstärksten Mittel (1).
Die DOAK haben große Fortschritte in der Antikoagulation gebracht. Zum einen haben sie dafür gesorgt, dass viele zuvor unbehandelte Patienten mit Vorhofflimmern (VHF) eine adäquate Schlaganfallprophlyaxe erhalten. Zum anderen hat die intensive klinische Forschung der letzten Jahre wichtige Erkenntnisse zur Antikoagulation spezieller Patientengruppen wie etwa Patienten mit chronischer Nierenerkrankung und in bestimmten klinischen Situationen, beispielsweise das Management von VHF-Patienten mit akutem Koronarsyndrom, geliefert (2).
In den beiden Hauptanwendungsgebieten oraler Antikoagulanzien, nämlich Schlaganfallprophylaxe sowie Therapie und Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien (VTE), ersetzen sie leitlinienkonform (3, 4) zunehmend die VKA. Seit 2021 sind Rivaroxaban und Dabigatran auch für die VTE-Therapie bei Kindern zugelassen. Darüber hinaus stehen mit Idarucizumab (2015) für Dabigatran und Andexanet alfa (2019) für DXI (nicht Edoxaban) spezifische Antidote zur Verfügung. Bei etlichen Indikationen, beispielsweise Patienten mit künstlichen Herzklappen oder Antiphospholipid-Syndrom, ist man jedoch nach wie vor auf die VKA angewiesen.
Bislang wurde die Anwendung der parenteralen Antikoagulanzien durch die DOAK nur geringfügig beeinflusst, doch das dürfte sich allmählich ändern. Denn in der VTE-Therapie werden Apixaban und Rivaroxaban laut Zulassung vom ersten Tag an gegeben und ersetzen daher die initiale Antikoagulation mit einem NMH oder Fondaparinux (4). Ferner können Tumor-assoziierte Thrombosen (CAT) statt mit einem NMH für mindestens sechs Monate inzwischen mit einem DXI behandelt werden, wenn kein hohes Risiko für gastrointestinale oder urogenitale Blutungen, keine starken Arzneimittelwechselwirkungen und keine gastrointestinalen Resorptionsstörungen vorliegen (5, 6). Zudem sinkt der NMH-Bedarf infolge der rückläufigen VKA-Anwendung, da entsprechend seltener ein parenterales »Bridging« (Überbrückung) im Rahmen von Operationen erforderlich ist.
Nichtdestotrotz bleiben Heparine unverzichtbar, beispielsweise in der Intensivmedizin, Schwangerschaft und Stillzeit sowie Herz- und Gefäßchirurgie (Tabelle 1). Zuletzt hat Covid-19 noch einmal den Stellenwert dieser besonderen Biologika in der Medizin verdeutlicht (7, 8).
Parameter | Heparine, parenterale Antikoagulanzien | VKA | DOAK |
---|---|---|---|
Applikation | parenteral | oral | oral |
Interaktionen | keine pharmakokinetischen | sehr häufig, komplex und nicht vorhersehbar | überwiegend milde CYP3A4-/Pgp-Interaktionen |
Anwendung bei gastrointestinalen Problemen | problemlos | eingeschränkt | eingeschränkt |
Anwendung bei CKD | je nach NMH ohne Dosisanpassung | CKD-Progression, negatives Nutzen-Risiko-Verhältnis bei CKD5 | Dosisreduktion in bestimmten Fällen |
Monitoring | kein Routinemonitoring, Methode breit etabliert | Routinemonitoring erforderlich | kein Routinemonitoring, Methoden nicht breit etabliert |
Dosierung | Fehler möglich | »personalisiert« | Fehler möglich |
perioperatives Management | unverzichtbar für das Bridging bei VKA-Einnahme | Bridging-Problematik | kein Bridging erforderlich |
Zulassung für die VTE-Prophylaxe | ja | nein | nur nach Hüft- und Kniegelenkersatz-OP |
Schwangerschaft | Mittel der Wahl | kontraindiziert | kontraindiziert |
Stillzeit | Mittel der Wahl | Warfarin möglich | kontraindiziert |
Anwendung bei Intensivpatienten | UFH oder NMH | nein | nein |
Indikationsbreite | groß | groß | gering* |
CKD: chronische Nierenerkrankung; Pgp: P-Glykoprotein
*) beispielsweise nicht bei Patienten mit künstlichen Herzklappen, Antiphospholipid-Syndrom, nach Schlaganfall ohne Vorhhofflimmern, Dialyse, Thrombophilie
Angesichts der pandemischen afrikanischen Schweinegrippe mit ihren Auswirkungen auf die Heparin-Ressourcen und extremen Preissteigerungen für Rohheparin stellt sich jedoch aktuell die Frage der Versorgungssicherheit. Hinzu kommt, dass durch den Kostendruck (Festbetragsreduktionen, Rabattverträge, Biosimilars) das »Heparin-Geschäft« immer weniger attraktiv wird.
Die medikamentöse Antikoagulation ist prinzipiell eine Gratwanderung zwischen Thromboembolie und Blutung und erfordert große Sorgfalt. Dies beginnt mit der Wahl des individuell am besten geeigneten Antikoagulanz und seiner korrekten Dosierung, die durch die Vielfalt der Regeldosis- und Dosisreduktionsregime der DOAK zu einer Herausforderung geworden ist (2). Hinzu kommt, dass die Hälfte der VTE-Patienten 70 Jahre und älter sowie 61 Prozent der VHF-Patienten sogar über 75 Jahre alt sind. Die Mehrzahl der antikoagulierten Patienten hat demnach eine eingeschränkte Nierenfunktion, Multimorbidität, Polymedikation und häufiger Indikationen für eine operative Intervention. Dies erhöht das Risiko für Nebenwirkungen (UAW), Medikationsfehler und Non-Adhärenz.
Blutungen unter gerinnungshemmenden Medikamenten stehen auf Platz 1 der UAW, die zu Krankenhausaufnahmen führen (9, 10). Häufig sind Medikationsfehler und Interaktionen die Ursache (11). Letztere sind überwiegend pharmakodynamischer und nicht pharmakokinetischer Art, das heißt, dass sie nicht anhand eines Monitorings, nämlich der INR bei den VKA, erkennbar sind und alle Antikoagulanzien gleichermaßen betreffen.
Mit den DOAK, »Heparinen« und VKA steht ein Portfolio an Antikoagulanzien zur Verfügung, die sich mit ihren Vor- und Nachteilen sinnvoll ergänzen (Tabelle 1). Alle erhöhen jedoch das Blutungsrisiko. Das gilt auch für die DOAK, obwohl sie im Vergleich zu den VKA in der Prophylaxe bei VHF-Patienten die Zahl hämorrhagischer Schlaganfälle und intrakranieller Blutungen (12, 13) halbierten und in der VTE-Therapie das Risiko schwerer Blutungen signifikant reduzierten (14, 15).
Antikoagulanzien ohne erhöhtes Blutungsrisiko wären vor allem für Patienten wünschenswert, die ohnhin eine erhöhte Blutungsneigung haben. Hierzu zählen nicht nur Patienten mit Blutungen in der Anamnese und gastrointestinalen Ulcera, sondern auch Menschen mit chronischer Nierenerkrankung (CKD), Tumorpatienten, fragile und ältere Menschen, die alle auch zusätzlich ein erhöhtes Thromboembolie-Risiko haben. Zu denken ist auch an Patienten mit einer Komedikation, die das Blutungsrisiko erhöht.
Die Angst vor Blutungen führt häufig dazu, dass die Antikoagulation unterdosiert oder vermieden wird. So erhalten in Deutschland mehr als ein Viertel der Patienten fälschlicherweise eine zu niedrige DOAK-Dosis mit der Konsequenz einer um 24 Prozent erhöhten Mortalität (16).
Die Frage der adäquaten Antikoagulation bei CKD ist relevant, da 65 Prozent der Patienten mit Vorhofflimmern ein CKD-Stadium 3 bis 5 aufweisen (17, 18). Metaanalysen zufolge sind die DOAK bei mittelschweren Funktionseinschränkungen (CKD 3) in der jeweils indizierten Dosierung (2) wirksamer und sicherer als die VKA (19, 20). Zudem rechtfertigen aktuelle Daten, dass die DXI (im Gegensatz zu Dabigatran) laut Zulassung mit Vorsicht auch bei schwerer Nierenerkrankung (CKD 4) eingesetzt werden können (21). Da Letztere jedoch in den Zulassungsstudien ein Ausschlusskriterium war, empfiehlt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft trotzdem den Einsatz von VKA (22, 23). Jedoch gibt es mittlerweile gute Evidenz, dass die VKA im Gegensatz zu den DOAK zu einer CKD-Progression führen (24–30).
Antikoagulanzien, die das Blutungsrisiko nicht erhöhen, wären für viele Menschen hilfreich. Dazu gehören Tumor- und Dialysepatienten. / Foto: Adobe Stock/Tyler Olson
Problematisch ist die Situation bei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz und Hämodialysepflicht, da sie sowohl ein besonders hohes Risiko für Blutungen als auch für Herzinfarkt, Schlaganfall und VTE haben. Eine aktuelle Metaanalyse der allerdings dürftigen Datenlage bestätigt noch einmal, dass VKA das hohe TE- und Mortalitätsrisiko von VHF-Patienten nicht reduzieren, aber siginifkant häufiger zu hämorrhagischen Schlaganfällen führen (31). Ob Apixaban und Rivaroxaban geeignet sind, ist noch nicht ausreichend belegt (20, 32).
Die Situation bei Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz zeigt exemplarisch, dass nicht nur sicherere, sondern auch wirksamere Antikoagulanzien sowie Wirkstoffe mit einem besseren Nutzen-Risiko-Verhältnis gebraucht werden. Die DOAK können diesen Bedarf offensichtlich nicht in allen Fällen decken, denn bei Patienten mit künstlichen Herzklappen oder mit Antiphospholipid-Syndrom haben sie sich als weniger wirksam als VKA erwiesen (2).
Zufriedenstellende antithrombotische Konzepte fehlen auch für weitere klinische Situationen, etwa die Sekundärprävention nach Schlaganfall (insbesondere kardioembolischer oder unklarer Ursache) oder die Thromboseprophylaxe nach Transkatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI). Außerdem wäre es wünschenswert, die Thrombusbildung durch Blutkontakt mit Fremdoberflächen von Implantaten, zum Beispiel künstlichen Herzklappen oder Koronarstents, zentralvenösen Kathetern und Systemen für extrakorporale Zirkulation, effizient verhindern zu können.
Ursprünglich unterteilte man die Blutgerinnnungskaskade in den intrinsischen und den extrinsischen Weg, die beide über Faktor Xa und Thrombin (Faktor IIa) zur Fibrinbildung führen (Grafik).
Diese klassische Sichtweise der Zwei-Wege-Aktivierung wurde vor 20 Jahren mit dem sogenannten zellbasierten Modell der Gerinnung modifiziert (33, 34). Demnach werden sowohl die physiologische Hämostase, das heißt die Gerinnung bei Gefäßverletzungen, als auch die pathologische Thrombusbildung durch Gewebefaktor (TF, tissue factor) auf TF-exprimierenden Zellen und Mikropartikeln ausgelöst.
Blutgerinnungskaskade: Die plasmatische Blutgerinnung wird entweder extrinsisch durch Tissue Factor (TF) und Faktor VIIa (FVIIa) oder intrinsisch durch negativ geladene Oberflächen und die Faktoren des Kontaktsystems (rot) ausgelöst. Die ersten Thrombinspuren (FIIa) bewirken durch Aktivierung von FXI und der Cofaktoren FVIII und FV die sogenannte intrinsische Amplifikation. Die resultierenden großen Thrombinmengen spalten Fibrinogen und führen zur Gerinnselbildung. Während der extrinsische Weg essenziell für die Blutstillung ist, sind der intrinsische Weg und damit das Kontaktsystem primär für die pathologische Gerinnung, also die Thombusbildung, verantwortlich. / Foto: PZ/Stephan Spitzer
Der identische Ablauf von Blutstillung und Thrombusbildung macht plausibel, dass alle bisherigen Antikoagulanzien die Blutungsneigung erhöhen: Sie hemmen entweder direkt oder indirekt Thrombin beziehungsweise dessen Generierung durch Faktor Xa. So verhindern sie einerseits wirksam die Thrombusbildung, beeinträchtigen andererseits jedoch die physiologische Hämostase (35).
Das zellbasierte Gerinnungsmodell ging davon aus, dass die Initiierung der intrinsischen Gerinnung durch Kontaktaktivierung, das heißt durch negativ geladene Oberflächen, in vivo keine große Bedeutung hat. Es galt also, die (patho-)physiologischen Funktionen des Kontaktsystems zu klären. Experimentelle und klinische Forschungen ergaben, dass das Kontaktsystem eine zentrale Rolle bei der Entzündung, der angeborenen Immunabwehr und auch in der Gerinnung spielt (36).
Wie gerinnt das Blut eigentlich? Die Vorstellungen zur Gerinnungskaskade haben sich in den letzten Jahren geändert. / Foto: Adobe Stock/leungchopan
Das Kontaktsystem besteht aus FXII(a), Plasmakallikrein (pK(a)), »high-molecular-weight kininogen« (HK) und FXI(a) (Grafik, oben). Seine Aktivierung beginnt mit der Autoaktivierung von FXII, die durch eine Konformationsänderung infolge der Bindung an Polyanionen ausgelöst wird. Entscheidend war die Entdeckung, dass solche Polyanionen auch in vivo vorkommen und somit die intrinsische Gerinnung initiieren können. Sie stammen aus geschädigten oder aktivierten Zellen und Plättchen sowie aus Bakterien. Besonders bedeutend sind Polyphosphate, die hauptsächlich aus DNA bestehenden »neutrophils extracellular traps« (NET) und Nukleinsäuren (35, 37).
Nach Autoaktivierung aktiviert FXIIa einerseits FXI und somit die intrinsische Gerinnung, andererseits pKa. Dieses wiederum aktiviert FXII und verstärkt so indirekt die FXIa-Bildung (Grafik Mitte). Zudem sorgt es für die Freisetzung des vasodilatierenden proinflammatorischen Peptids Bradykinin. Darüber hinaus sind sowohl FXIIa als auch pKa unter anderem an der Aktivierung des Komplementsystems und der Fibrinolyse beteiligt (35, 38, 39).
Der physiologisch wichtigste Inhibitor des Kontaktsystems ist der C1-Esterase-Inhibitor (C1-INH). Angeborener C1-INH-Mangel oder ein Gendefekt, der seine Wirkung beeinträchtigt, manifestiert sich als hereditäres angioneurotisches Ödem (HAE) mit lebensbedrohlichen Attacken.
Bereits lange bekannt ist, dass Menschen mit einem FXII-Mangel kein erhöhtes Blutungsrisiko haben, dass Personen mit einem FXI-Mangel (Hämophilie C) nur nach schweren Traumen und bei großen Operationen vermehrt bluten und Menschen mit einem pK-Mangel häufig sogar unerkannt bleiben (35, 38, 40). Folglich sind diese Faktoren zwar essenziell für die Gerinnung durch Kontaktaktivierung, scheinen aber für die Blutstillung eher unwichtig zu sein. Daher wurde untersucht, ob sie Targets für Wirkstoffe sein könnten, die Thromben verhindern, ohne das Blutungsrisiko zu erhöhen.
Versuche mit Knock-out-Mäusen belegten die Hypothese: Das »Ausschalten« von FXI (41), FXII (42) und auch pK (43) verhinderte venöse und arterielle Thrombosen, ohne die Blutungszeit zu verlängern. Studien in Thrombose-Tiermodellen mit Antikörpern, Antisense-Oligonukleotiden und anderen Inhibitoren bestätigten diese Ergebnisse (35, 38, 40).
Entscheidend für die industrielle Forschung und Entwicklung sind auch die zahlreichen Beobachtungsstudien, die den Zusammenhang zwischen den Faktoren und venösen Thromboembolien, Schlaganfall und chronischem Koronarsyndrom untersucht haben. In ihrer Gesamtheit erlauben sie Schlussfolgerungen für FXI und FXII (38, 40) (Tabelle 2; zur Mortalität (44)); die Datenlage für Plasmakallikrein ist nicht ausreichend (38).
Faktoren | VTE | Ischämischer Schlaganfall | KHK, Herzinfarkt (MI) | |
---|---|---|---|---|
Faktor-XI-Konzentration und/oder -Aktivität | ||||
Mangel | ↓ | ↓ | ↔ MI | |
niedrig | ↓ | / | ↔ KHK / ↓↔ MI | |
hoch | ↑ | ↑ | ↔ KHK / ↑↔ MI | |
Faktor-XII-Konzentration und/oder -Aktivität | ||||
Mangel | ↔ | ↔ | ↔ | |
niedrig | ↔ | ↔ | ↑↓ | |
hoch | ↔ | ↔ | ↑↓ |
↑: Vorkommen/Risiko erhöht; ↓: Vorkommen/Risiko erniedrigt; ↔: Vorkommen/Risiko nicht beeinflusst; ↑↓, ↑↔, ↓↔: Datenlage so widersprüchlich, dass keine Schlussfolgerung möglich
Basierend auf den experimentellen und epidemiologischen Daten avancierte FXI(a) zur Zielstruktur Nummer 1 für die Entwicklung neuer Antikoagulanzien (45, 46).
Struktur von Faktor XI, einem aus jeweils vier «Apple«-Domänen bestehenden Dimer / Foto: Quelle: Papagrigoriou, E., et al., Crystal structure of the factor XI zymogen reveals a pathway for transactivation. (2006) Nat Struct Mol Biol 13: 557-558
Da FXI infolge seiner »Feedback«-Aktivierung durch Thrombin (Grafik) auch in die Tissue-Factor-induzierte Hämostase involviert ist, könnte eine FXI(a)-Inhibition im Gegensatz zu einer FXII(a)-Hemmung zwar mit einem gewissen Blutungsrisiko assoziiert sein, aber auch dann wirken, wenn Tissue Factor an der Thrombusbildung beteiligt ist, etwa bei Operationen oder Atherothrombosen (47).
Während sich die Effekte von FXIa auf die Gerinnung konzentrieren, hat FXIIa vielfältige Funktionen. Die Hemmung von FXII(a) als antithrombotische Strategie wird mittlerweile sogar als »zweischneidiges Schwert« betrachtet und in der Industrie nicht weiterverfolgt. FXIIa wirkt nämlich nicht nur prokoagulatorisch, sondern auch profibrinolytisch und thrombusstabilisierend. Seine Hemmung könnte folglich sowohl das Thrombuswachstum als auch die Embolisierung fördern. So erkärt man sich, dass ein FXII- im Gegensatz zu einem FXI-Mangel das Auftreten von Thromboembolien nicht reduziert (Tabelle 2).
FXII(a)-Inhibitoren werden allerdings als interessante Kandidaten für andere Indikationen angesehen; hierzu zählen das hereditäre Angioödem, Immunthrombosen, Sepsis, Multiple Sklerose, Alzheimer-Erkrankung und Neuroprotektion nach Schädel-Hirn-Traumata (39). Der FXIIa-Antikörper Garadacimab (synonym CSL312) wird in mehreren Indikationen klinisch geprüft (48).
Trotz antithrombotischer Effekte in Tierversuchen spielen auch pK(a)-Inhibitoren in der Antikoagulanzien-Forschung keine Rolle. Der Kallikrein-Kinin-Weg macht die pK(a)-Hemmung jedoch für andere Indikationen interessant. Mit Ecallantide (nur in den USA) und Lanadelumab sind bereits zwei pKa-Inhibitoren zugelassen.
Bis 2019 wurden fast 150 Patente zu FXI(a)-Inhibitoren erteilt, davon 81 in den Jahren 2015 bis 2019 (45, 46). Strukturell lassen sich fünf Klassen unterscheiden:
Die meisten patentierten Inhibitoren sind niedermolekular, obwohl es aufgrund der Struktur von FXI eine besondere Herausforderung ist, Moleküle zu entwickeln, die gleichzeitig hoch potent und hoch selektiv wirken und peroral verfügbar sind (49). Mechanistisch gesehen gibt es sowohl kompetitive als auch allosterische Inhibitoren, bei den Antikörpern solche, die entweder an FXI oder FXIa oder an beide Formen binden, und mit den Antisense-Oligonukleotiden eine Klasse, die die FXI-Biosynthese blockiert.
Darüber hinaus unterscheiden sich die Substanzklassen in einigen klinisch relevanten Eigenschaften (Tabelle 3) (50, 51). Diese Diversität ist zu begrüßen. So ist es beispielsweise für die VTE-Prophylaxe nach Operationen attraktiv, nur eine Antikörperdosis injizieren zu müssen. Für die Langzeittherapie sind prinzipiell oral verfügbare Wirkstoffe, auch aus Kostengründen, interessant. Bei Patienten mit chronischer Nierenerkrankung oder Polymedikation haben jedoch Antisense-Oligonukleotide, rekombinante Antikörper und Aptamere den Vorteil, dass sie unabhängig von der Nierenfunktion eliminiert werden und kein pharmakokinetisches Interaktionspotenzial haben. Günstig für die Adhärenz kann die im Vergleich zu oralen Wirkstoffen und Aptameren seltenere Applikation von rAK und ASO sein.
Parameter | niedermolekulare Wirkstoffe | Antisense-Oligonukleotide | rekombinante Antikörper | Aptamere |
---|---|---|---|---|
Applikation | oral | subkutan | intravenös oder subkutan | intravenös oder subkutan |
Dosisfrequenz | täglich | wöchentlich* | monatlich | täglich |
Wirkbeginn | Stunden | Tage | sofort bis Stunden | sofort bis Stunden |
Wirkdauer | Stunden | Tage bis Wochen | Wochen | Stunden |
renale Elimination | ja | nein | nein | nein |
pharmakokinetische Interaktionen | ja | nein | nein | nein |
Natürliche Polypeptide und ihre Derivate sind in Tabelle 3 nicht aufgeführt, da sie in ihren Eigenschaften sehr heterogen sind, gegenüber den anderen Substanzklassen gewisse Nachteile aufweisen und sich in dieser Klasse kein aussichtsreicher Kandidat befindet. Ein Vetreter, der immerhin in einer Phase-I-Studie geprüft wurde, ist das ursprünglich aus der Zecke Ixodes ricinus isolierte, rekominant hergestellte Ir-CPI, das allerdings nicht nur FXIa, sondern auch FXIIa und pKa hemmt.
Von der großen Zahl der FXI(a)-Inhibitoren haben inzwischen acht Kandidaten die Phase II der klinischen Entwicklung erreicht: zwei oral verfügbare »small molecules«, zwei Antisense-Oligonukleotide und vier rekombinante Antikörper (Tabelle 4). Abelacimab wird zusätzlich seit Mai 2022 in zwei Phase-III-Studien geprüft; für Asundexian und Milvexian werden aktuell Studienpläne für die Phase III entwickelt.
Der erste FXI(a)-Inhibitor, der in einer Phase-II-Studie untersucht wurde, war das Antisense-Oligonukleotid IONIS-FXIRx (52) (Tabelle 4). Die Indikation der FXI-ASO TKA-Studie »VTE-Prophylaxe nach elektivem chirurgischen Kniegelenkersatz (Knie-TEP)« liegt sicherlich nicht im Fokus der FXI(a)-Inhibitoren, ist aber eine typische Proof-of-Concept-Indikation in der Antikoagulanzien-Entwicklung (2). Diese Studie und drei weitere Knie-TEP-Studien mit Oxosimab (53) und Abelacimab (54) sowie dem niedermolekularen Milvexian (55) lieferten konsistente Ergebnisse. Eine gerade publizierte Metaanalyse ergab eine gegenüber Enoxaparin signifikante Reduktion schwerer und klinisch relevanter Butungen und auch der VTE (56).
Tabelle 4: FXI(a)-Inhibitoren, die die Phase II der klinischen Prüfung erreicht haben (laut clinicaltrials.gov, 02.10.2022)
ACS: acute coronary syndrome, akutes Koronarsyndrom; CAT: cancer-associated thrombosis, Tumor-assoziierte Thrombose; CRT: catheter-related thrombosis in cancer patients receiving chemotherapy, katheterbedingte Thrombose bei Tumorpatienten unter Chemotherapie; ESRD: end-stage renal disease, Stadium 5 der chronischen Nierenerkrankung mit Dialyse; Knie-TEP: elektiver chirurgischer Kniegelenkersatz; P: Publikation; (P): Ergebnisse in clinicalstrials.gov, Pressemeldung und/oder Kongress-Abstract; SPAF: stroke prophylaxis in atrial fibrillation, Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern
Die überlegene Sicherheit bestätigt die Hypothese zur FXI(a)-Inhibition als Antikoagulation ohne erhöhtes Blutungsrisiko. Eher unerwartet war die bessere Wirksamkeit, da gerade bei Kniegelenkersatz-Operationen sehr große Mengen an Gewebefaktor freigesetzt werden.
Die anderen Phase-II/III-Studien adressieren die dialysepflichtige Niereninsuffizienz (ESRD), Schlaganfall und Tumorpatienten (Tabelle 4) und damit drei Bereiche, in denen klarer Optimierungsbedarf besteht. Allein sechs der acht FXI(a)-Inhibitoren wurden oder werden für die Thromboembolie-Prophylaxe bei Hämodialyse-pflichtigen Patienten untersucht, und zwar im Vergleich zu Placebo mangels zugelassener Alternative. Die abgeschlossenen, allerdings sehr kleinen Studien zeigen, dass die FXI(a)-Inhibitoren gut verträglich sind und das Blutungsrisiko nicht erhöhen.
Schlaganfallpatienten brauchen nicht nur eine gute Reha, sondern auch eine sichere Antikoagulation. / Foto: Adobe Stock/Mikolette Moller/peopleimages.com
Ischämische Schlaganfälle sind die zweithäufigste thromboembolische Komplikation bei kardiovaskulären Erkrankungen mit hoher Morbidität und Mortalität. Besonders die hohe Rezidivrate in der Frühphase verlangt eine wirksamere antithrombotische Therapie, ohne das Blutungsrisiko weiter zu erhöhen.
Vor diesem Hintergrund wurden die beiden oralen FXIa-Inhibitoren Asundexian und Milvexian in Phase-II-Studien untersucht (58, 61) (Tabelle 4). Patienten mit akutem ischämischen Schlaganfall erhielten einmal täglich unterschiedliche Dosen Asundexian beziehungsweise zweimal täglich Milvexian zusätzlich zur üblichen Plättchenhemmung, jeweils im Vergleich zu Placebo. Die Ende August beim ESC-Kongress vorgestellten Ergebnisse wurden zwiespältig beurteilt, denn beide Substanzen erhöhten zwar nicht das Risiko schwerer und klinisch relevanter Blutungen, reduzierten aber auch nicht den kombinierten primären Wirksamkeitsendpunkt (58, 62). Post-hoc-Analysen zufolge verminderte die FXIa-Hemmung die Rate der symptomatischen ischämischen Schlaganfälle um etwa ein Drittel, hatte jedoch keinen Einfluss auf die häufigeren asymptomatischen kleinen Hirninfarkte.
Das Vertrauen in die FXIa-Hemmung scheint groß zu sein, denn aktuell werden für beide Substanzen große Phase-III-Studien geplant.
Bei VHF-Patienten mit dem Risiko eines kardioembolischen Schlaganfalls haben die DOAK einen beachtlichen Fortschritt gebracht, aber besonders für vulnerable Patienten ist ein geringeres Butungsrisiko erstrebenswert (68). Basierend auf ersten Phase-II-Ergebnissen könnten dies die FXI(a)-Inhibitoren leisten.
Das umfangreiche PACIFIC-Programm zu Asundexian beinhaltete zusätzlich eine Studie zur Add-on-Therapie nach akutem Herzinfarkt. Zugelassen für diese Indikation ist Rivaroxaban; es spielt allerdings wegen der Erhöhung des Blutungsrisikos in der Praxis keine Rolle. Die Blutungen unter Asundexian waren dagegen in der PACIFIC-AMI-Studie auf Placeboniveau (59). Ob eine Phase-III-Studie folgen wird, ist nicht bekannt.
Der dritte aktuelle Schwerpunktbereich der Entwicklung der FXI(a)-Inhibitoren sind die venösen Thromboembolien von Tumorpatienten. Prädestiniert für die langfristige Anwendung bei diesen Patienten, die häufig unter gastrointestinalen Problemen leiden, sind monatlich zu injizierende Antikörper wie Abelacimab, das aktuell in zwei Phase-III-Studien untersucht wird. Daneben wird Xisomab 3G3 zur Prophylaxe Katheter-assoziierter Thrombosen an Patienten unter Chemotherapie geprüft. Da Xisomab selektiv die FXI-Aktierung durch FXIIa und damit Fremdoberflächen, nicht jedoch die durch Thrombin hemmt, scheint dieser rekombinante Antikörper prädestiniert für diese Anwendung.
Foto: Adobe Stock/Denira
Susanne Alban ist approbierte Apothekerin und C3-Professorin für Pharmazeutische Biologie. Seit 2002 ist sie Direktorin des Pharmazeutischen Instituts der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Nach Studium, Promotion, Post-doc-Aufenthalten und Habilitation war sie bis 2002 als Oberassistentin an der Universität Regensburg tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Glycochemie/-biologie und das Netzwerk von Inflammation, Hämostase und Tumormetastasierung. Ihr besonderes Interesse gilt der medizinischen Hämostaseologie. Neben Tätigkeiten in staatlichen und wissenschaftlichen Gremien sowie Editorial Boards ist sie Mitglied der AMK der Deutschen Apotheker.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.