Neuer Antikörper blockiert IL-6 |
Annette Rößler |
09.08.2021 07:00 Uhr |
Neuromyelitis optica klingt nach Sehminderung, doch auch eine Querschnittlähmung kann Folge der Autoimmunerkrankung NMOSD sein. / Foto: Getty Images/Luis Alvarez
NMOSD sind mit circa einem bis zehn Betroffenen von 100.000 Einwohnern in der westlichen Welt seltene Erkrankungen, die sich meist im Erwachsenenalter manifestieren. Da NMOSD überwiegend schubförmig verlaufen und die Symptome denen der Multiplen Sklerose (MS) ähneln, besteht Verwechslungsgefahr mit der deutlich häufigeren MS. Anders als bei dieser bilden sich die Symptome bei NMOSD nach einem Schub jedoch kaum zurück. Patienten mit NMOSD leiden oft unter sehr schweren Entzündungen der Sehnerven und des Rückenmarks, die zu bleibender Sehminderung und Querschnittlähmung führen können.
Während eines Schubs ist bei Patienten mit NMOSD die Konzentration des proinflammatorischen Zytokins Interleukin- (IL-)6 im Blut und im ZNS erhöht. Das hat verschiedene Konsequenzen, unter anderem eine B-Zell-Aktivierung, Veränderung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und die Produktion von Autoantikörpern gegen das Wasserkanalprotein Aquaporin-4 (AQP4). Diese Antikörper greifen bestimmte Gehirnzellen an, die Astrozyten, und verursachen eine Entzündung, an der die Astrozyten zugrunde gehen. Bei vier von fünf NMOSD-Patienten sind AQP4-Antikörper nachweisbar.
Satralizumab (Enspryng® 120 mg Injektionslösung in einer Fertigspritze, Roche) wird bei NMOSD-Patienten mit AQP4-Antikörpern als Monotherapie oder in Kombination mit einer immunsuppressiven Therapie angewendet. Letztere kann aus oralen Corticosteroiden, Azathioprin oder Mycophenolatmofetil bestehen. Der neue Arzneistoff kann ab einem Alter von zwölf Jahren eingesetzt werden, wenn der Patient mindestens 40 kg wiegt.
Die Therapie beginnt mit drei Anwendungen im Abstand von jeweils zwei Wochen und wird dann im Monatsrhythmus fortgesetzt. Pro Anwendung werden 120 mg Satralizumab, also der gesamte Inhalt einer Fertigspritze, subkutan injiziert. Die erste Gabe muss unter Aufsicht von qualifiziertem medizinischen Fachpersonal erfolgen, danach kann sich der Patient bei entsprechender Schulung zu Hause selbst spritzen. Empfohlene Injektionsstellen sind Bauchdecke und Oberschenkel.
Ein Anstieg der Leberwerte oder eine Verringerung der Neutrophilen- oder Thrombozytenzahlen können eine Unterbrechung der Therapie oder ein dauerhaftes Absetzen erforderlich machen. Auch bei einer aktiven Infektion muss die Behandlung unterbrochen werden, bis die Infektion unter Kontrolle ist. Während der Therapie mit Satralizumab dürfen Patienten nicht mit Lebendimpfstoffen geimpft werden.
Vorsicht ist geboten bei Therapiestart oder Absetzen von Satralizumab, wenn gleichzeitig Arzneistoffe gegeben werden, die über die Cytochrom-P-450-Enzyme 3A4, 1A2, 2C9 oder 2C19 verstoffwechselt werden und ein enges therapeutisches Fenster besitzen. Hierzu zählen etwa Carbamazepin, Phenytoin und Theophyllin. Zu beachten ist dabei, dass die Wirkung von Satralizumab aufgrund seiner langen Halbwertszeit noch mehrere Wochen nach dem Absetzen anhalten kann.
In der Schwangerschaft soll Satralizumab aus Vorsichtsgründen nicht angewendet werden. Da es sich um ein Immunglobulin G handelt und IgG bekanntermaßen in den ersten Tagen nach der Geburt in die Muttermilch übergehen, kann ein Risiko für gestillte Säuglinge in diesem Zeitraum nicht ausgeschlossen werden. Danach sollte Satralizumab in der Stillzeit nur bei klinischer Notwendigkeit in Betracht gezogen werden.
Zulassungsrelevant waren die beiden randomisierten, doppelblinden Phase-III-Studien BN40898 und BN40900. In der ersten wurde Satralizumab in Kombination mit einer immunsuppressiven Therapie (IST) gegen Placebo getestet, in der zweiten als Monotherapie. Als Kriterium für die Wirksamkeit wurde jeweils die Zeit bis zum ersten protokolldefinierten Schub erfasst.
An BN40898 nahmen 83 stabil auf eine IST eingestellte NMOSD-Patienten teil, an BN40900 95 Patienten ohne IST-Basistherapie. In beiden Studien machten Patienten ohne AQP4-Antikörper etwa 30 Prozent der Teilnehmer aus. Bei ihnen zeitigte die Satralizumab-Behandlung keine signifikante Wirksamkeit. Bei den Patienten mit AQP4-Antikörpern war der Unterschied zu Placebo jedoch deutlich und auch statistisch signifikant: In Kombination mit IST sank das Risiko für einen bestätigten Schub um 79 Prozent; bei Anwendung von Satralizumab als Monotherapie waren es 74 Prozent. In der offenen Verlängerungsphase zeigte sich eine anhaltende Wirksamkeit. Nach 120 Wochen waren von den Patienten mit AQP4-Antikörpern unter Satralizumab-IST-Kombinationstherapie noch 58 Prozent schubfrei und unter Monotherapie noch 73 Prozent.
Die häufigsten Nebenwirkungen in den Studien waren Kopfschmerzen (19,2 Prozent der Behandelten), Arthralgie, verringerte Leukozytenzahl und Hyperlipidämie (jeweils 13,5 Prozent) sowie injektionsbedingte Reaktionen (12,5 Prozent).
Enspryng-Fertigspritzen sind im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C im Umkarton aufzubewahren. Ungeöffnet kann die Packung einmalig für bis zu acht Tage bei Raumtemperatur unter 30 °C gelagert werden, muss danach aber verwendet oder entsorgt werden.
Mit Satralizumab gibt es nun einen zweiten zugelassenen Antikörper zur Therapie der Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD). Im Vorjahr erhielt bereits Eculizumab eine entsprechende Indikationserweiterung. Satralizumab wirkt anders, nämlich als Anti-IL-6-Rezeptor-Antikörper. Dieses Wirkprinzip ist aber keineswegs neu und zum Beispiel von Tocilizumab bestens bekannt. Dennoch kann Satralizumab als Schrittinnovation bezeichnet werden. Denn es steht nun erstmals ein Wirkstoff zur subkutanen Verabreichung für Erwachsene und Jugendliche mit NMOSD zur Verfügung. In Studien nachgewiesen ist, dass Satralizumab das Schubrisiko bei NMOSD signifikant verringern kann.
Zukünftig wird man Satralizumab weiter im Blick behalten. Das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) weist beispielsweise darauf hin, dass die Erfahrungen mit Satralizumab als Erstlinientherapie bei NMOSD noch begrenzt sind. Zudem sollten Langzeitdaten zur Anwendung des Antikörpers hinsichtlich des Sicherheitsprofils weiter erhoben und Betroffene möglichst in Registern erfasst werden.
Sven Siebenand, Chefredakteur